Dokument Nr. 7:
Zitate aus dem Artikel von Prof. Dr. iur. Lukas Gschwend: Das "Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse" der Pro Juventute - ein Fall von Völkermord in der Schweiz? Zitiert nach: Strafrecht, Strafprozessrecht und Menschenrechte. Festschrift für Stefan Trechsel zum 65. Geburtstag. Hg. v. Andreas Donatsch, Marc Forster, Christian Schwarzenegger. Zürich 2002. Der Artikel findet sich dort S. 373-392 Aus Abschnitt I. Einleitung /S.373/ Völkermord oder Genozid im Sinne der auf existenzbedrohliche Schwächung bzw. Elimination gerichteten Bekämpfung oder Unterdrückung von Völkern und Volksgruppen ist in der Geschichte der Menschheit ein nicht selten zu beobachtendes Phänomen. Aufgrund der zeitlichen Nähe und des daher noch fühlbaren Schattenwurfs auf die jüngere Entwicklung der menschlichen Zivilisation, aber /S.374/ auch zufolge ihrer grotesken Dimensionen und der technisierten Ausführung machen uns die Genozide des 20. Jahrhunderts besonders betroffen. Insbesondere der während der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland und in den besetzten Gebieten verübte systematische, durch wahnwitzige Rassenirrlehren motivierte Massenmord an den Juden wurde zum zentralen Thema der noch immer andauernden und auch weiterhin notwendigen Vergangenheitsbewältigung nach dem Zweiten Weltkrieg. Mitunter wird der Begriff des Genozids geradezu mit dem Holocaust und der Shoa identifiziert. Darüber darf indessen nicht vergessen werden, dass zwischen 1933 und 1945 auch unzählige Sinti und Roma dem Rassenwahn zum Opfer fielen, verfolgt und zu Zehntausenden in deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern ermordet wurden. (Fussnote 3: Vgl. dazu die komparativ angelegte Darstellung von Wolfgang Wippermann, "Wie die Zigeuner". Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich, Berlin 1997. Die jüngere Vergangenheit kennt überdies weitere genozidale Katastrophen. Es sei erinnert etwa an die Vernichtung der Armenier durch die Türken im Gefolge des Untergangs des osmanischen Reichs nach dem ersten Weltkrieg oder an die Massenmorde in Kambodscha unter dem Terrorregime Pol Pots. Mit Blick auf die jüngste Vergangenheit der 1990er Jahre sind die Genozide in Ruanda und in (Ex-)Jugoslawien zu erwähnen.) Auch die Schweiz spielte durch ihre von Rassismus nicht freie Asylpolitik sowie aufgrund ihres deutschfreundlichen Wirtschafts- und Finanzgebarens, so die Forschungsergebnisse der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz - Zweiter Weltkrieg (UEK), eine zwar nicht zentrale, aber keineswegs unbedeutende Nebenrolle bei den erwähnten nationalsozialistischen Verbrechen. Gegenstand einer weiteren Studie der UEK ist die Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus. Die UEK kommt in ihrer Studie über die Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus zum Ergebnis, dass diese insbesondere auf die Fernhaltung der Sinti, Roma und ausländischen Jenischen von der Schweiz abzielte, ohne der durch die nationalsozialistische Verfolgung geschaffene Gefährdung für Leib und Leben Rechnung zu tragen. /S.375/ Während der Schweiz im genozidalen Getriebe des nationalsozialistischen Rassenwahns keine Schlüsselfunktion zukam, gehören möglicherweise die Aktivitäten des "Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse" der Pro Juventute zum Nachteil der insbesondere in den Kantonen Graubünden, Tessin, St. Gallen, aber auch in der Innerschweiz und im Berner Mittelland meist vom Wandergewerbe (Reparatur von Kesseln, Körben, Schirmen, Messer- und Scherenschleifen, Kurzwarenhandel u.a.) lebenden jenischen Bevölkerung im schweizerischen Binnenzusammenhang in den Bereich des Völkermords. Nachdem am 6. Januar 2000 das Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords für die Schweiz in Kraft getreten und das Schweizerische Strafgesetzbuch in Umsetzung des Übereinkommens auf den 15. Dezember desselben Jahres um den Tatbestand des Völkermords (Art. 264 StGB) ergänzt worden ist, gewinnt die Aufarbeitung der Geschichte des "Hilfswerks" eine neue, über das rechtshistorische und zeitgeschichtliche Forschungsinteresse hinausgehende strafrechtliche Aktualität. Eine umfassende strafrechtliche Beurteilung der Geschehnisse fällt insbesondere angesichts der komplexen Zusammenwirkung staatlicher Behörden mit Organen der Stiftung Pro Juventute äusserst schwer und bedarf umfassender und sorgfältiger Prüfung. (Fussnote 8: Unter den gegenwärtigen gesetzlichen Bestimmungen ist eine integrale Prüfung indessen nicht möglich, da die rund 36 Laufmeter Akten der Betroffenen im Bundesarchiv aufbewahrt werden, wo sie den restriktiven Grundsätzen für die Einsicht in Fürsorgeakten unterstehen und daher einer Sperrfrist von 100 Jahren unterliegen. Ungewiss ist die Archivierungslage bei den Vormundschaftsakten der kantonalen Behörden. Vgl. dazu Walter Leimgruber/Thomas Meier/Roger Sablonier, Das Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse. Historische Studie aufgrund der Akten der Stiftung Pro Juventute im Schweizerischen Bundesarchiv erstellt durch die BLG Beratungsstelle für Landesgeschichte im Auftrag des Eidgenössischen Departements des Innern, hg. vom Schweizerischen Bundesarchiv, Bern 1998, 11 ff., sowie die Kritik an dieser restriktiven Handhabung, ebd. 79f.) Sinnvollerweise sollte eine solche die strafrechtliche Verantwortlichkeit ins Auge fassende Untersuchung im Rahmen einer umfassenden wissenschaftlichen Aufarbeitung der damaligen Geschehnisse erfolgen, zumal der bisherige Kenntnisstand nach wie vor lückenhaft ist. (...) Aus Abschnitt II. Das "Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse" der Pro Juventute Unterabschnitt: Das Ziel der Beseitigung der jenischen Minderheit in der Schweiz /S.376/Das 1926 innerhalb der Stiftung Pro Juventute gegründete, von Bundesrat Giuseppe Motta mitangeregte und bis 1957 durch die Eidgenossenschaft mitfinanzierte "Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse" hatte zum Ziel, in der ganzen Schweiz mittels gezielter Anregung, Koordination und Durchführung vormundschaftlicher und disziplinarisch-fürsorgerischer Massnahmen, insbesondere durch die Wegnahme jenischer Kinder von ihren Eltern, in der Schweiz beheimatete, fahrende oder unstetige Familien auzulösen und deren oft dem Wandergewerbe verbundenen saisonalen Lebensstil zu beseitigen. Der von 1926 bis 1959 für das "Hilfswerk" verantwortliche Leiter der Pro Juventute-Abteilung "Schulkind", Dr. Alfred Siegfried (1890-1972), war Initiant und zugleich Hauptakteur. Der promovierte Romanist vertrat die damals in schweizerischen Psychiatriekreisen verschiedentlich geäusserte, rassenhygienischen und eugenischen Konzepten verbundene Deutung nichtsesshafter Lebensweise als Ergebnis eines angeborenen multiplen Kompetenzdefizits. Die Angehörigen jenischer Sippen seien erblich im Sinne der Degenerationslehre belastet und daher "minderwertig". (Fussnote 11: Hier ist insbesondere der Bündner Psychiater Josef Jörger zu nennen, der in mehreren Arbeiten Jenische zum Gegenstand seiner auf genetisch-hereditäre Disqualifikation angelegten Studien macht. Vgl. etwa ders., Die Familie Zero, in: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 2 (1905) 404 ff. oder ders., Psychiatrische Familiengeschichten, Berlin 1919. Zu den psychiatrischen Deutungen vgl. Urs Germann, Das "Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse", Traverse 8 (2000) 144f. und Sozialdepartement der Stadt Zürich (Hrsg.), Anstaltseinweisungen, Kindswegnahmen, Eheverbote, Sterilisationen und Kastrationen. Fürsorge, Zwangsmassnahmen, "Eugenik" und Psychiatrie in Zürich zwischen 1890 und 1970. Bericht von Thomas Huonker, Zürich 2002, 78 ff. Siegfried spricht von einem "Aufpropfen" der Vagantität durch Einheirat einer jenischen Frau. Vgl. Alfred Siegfried, Kinder der Landstrasse. Ein Versuch zur Sesshaftmachung von Kindern des fahrenden Volkes, Zürich 1964, 13) Der Lebensstil dieser in der warmen Jahreszeit bisweilen fahrenden oder innerhalb /S.377/ kurzer Intervalle den Aufenthalt und Wohnsitz wechselnden Familien wurde in disqualifizierender Weise auf einen zwanghaften, abnormen "Wandertrieb" zurückgeführt, der als Ausdruck einer psychopathischen Veranlagung gedeutet und mit Unsittlichkeit, Debilität, Verwahrlosung, Kriminalität sowie Trunksucht in enge Verbindung gebracht wird. Eine wesensmässige Veränderung dieser als "Unkraut" bezeichneten Menschen durch Belehrung und Förderung sei kaum wirksam. Siegfried bezeichnete die Jenischen als "Unkraut" und forderte daher, "wenigstens die Kinder zu retten (...)" (Fussnote 18: Vgl. Siegfrieds Artikel in der NZZ vom 13. Juni 1926, behandelt bei Leimgruber/Meier/Sablonier, Hilfswerk, 24) Das "Übel" der Landfahrerei musste "nach und nach ausgerottet" werden. (Fussnote 14: Vgl. Schweizerische Stiftung Pro Juventute (Hrsg.), Kinder der Landstrasse. Bilder aus dem Leben der wandernden Korber und Kesselflicker, Zürich 1927, 3, und Andina Egli, "Die Bekämpfung des Landfahrertums". Versuche zur Sesshaftmachung der Jenischen mit Hilfe von fürsorgerischen und admistrativ-justitiarischen Massnahmen in der Schweiz der Zwischenkriegszeit, Liz. Arbeit Phil. I, Zürich 1997, 96) Das "Hilfswerk" sollte auf nationaler Ebene - finanziert durch Spendengelder und unterstützt durch Gemeinden, Kantone und Bund - die meist nur fragmentarischen, subsidiären Massnahmen der Kantone und Gemeinden zur Bekämpfung der "Vagantität" fördern und koordinieren. Vom "Hilfswerk" ging indessen auch eine eigentliche Inititalfunktion aus, welche die Bekämpfung des fahrenden Lebensstils besonders in den gegenüber Jenischen traditionell eher toleranten Landesgegenden zum Inhalt hatte. Ziel war die Zersplitterung und Auflösung der Familienverbände und die definitive Sesshaftmachung der entwurzelten Individuen und damit die elementare Veränderung der die Minderheit kennzeichnenden Lebensweise durch die Verhinderung jenisch sozialisierten Nachwuchses. Aus den Kindern der Fahrenden sollten in den industriellen Produktionsprozess integrierte, als ethnische Entität nicht mehr feststellbare, sesshafte Arbeitskräfte werden. Auch sesshaften Jenischen wurden die Kinder weggenommen und fremdplatziert, insbesondere, wenn diese unehelich geboren waren. Die Jenischen sollten als Gruppe für immer vernichtet werden. Aus Abschnitt III. Der Straftatbestand des Völkermords gemäss Art.264 StGB Unterabschnitt 1. Der objektive Tatbestand /S.381/Art.264 Abs.1 StGB stimmt bezüglich des objektiven Tatbestands inhaltlich weitgehend mit Art.II der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords vom 9. Dezember 1948 (VMK) überein, weshalb für die Auslegung des neuen Straftatbestandes auf die Literatur zur genannten Norm des Übereinkommens zurückgegriffen werden kann. (Fussnote 35: Die längst überfällige normative Erfassung des Völkermords in der Schweiz und die Aufnahme eines Titels 75bis [der Originaltext nennt einen im StGB nicht existenten Art.12bis, was ein offenkundiger Druckfehler ist. Der Webmaster] in das StGB ist auch im Gesamtzusammenhang der Einführung des Römer Statuts für den Internationalen Strafgerichtshof zu sehen. Vgl. Römisches Statut des internationalen Strafgerichtshofs, Art.6) (...) Das vom Genozidverbot geschützte Rechtsgut nach Art. II VMK umfasst das Existenzrecht nationaler, ethnischer, rassischer und religiöser Gruppen bzw. im Wortlaut des Art.264 StGB "die Existenz einer durch die Staatsangehörigkeit, Ethnie, Rasse oder Religion gekennzeichneten Gruppe". Art.264 lit. a und b schützen überdies auch Leib und Leben der betroffenen Gruppenmitglieder. Sie definieren Erfolgsdelikte bezüglich der Verletzung dieser Rechtsgüter sowie bezüglich der Gefährdung einer geschützten Gruppe. Die Schutzkriterien werden abschliessend aufgeführt. (Fussnote 37: Vgl. Botschaft betreffend die VMK im Bundesblatt 1999 V 5338) Entscheidend für die konkrete Umschreibung der Gruppe und ihrer Zugehörigkeit ist neben dem gruppeninternen Selbstverständnis der Gruppe die durch die Täter vorgenommene soziale Zuschreibung. (Fussnote 39: Vgl. dazu Hans Vest, Die bundesrätliche Botschaft zum Beitritt der Schweiz zur Völkermord-Konvention - kritische Uberlegungen zum Entwurf eines Tatbestands über Völkermord, ZStR 117 (1999) 358) Die Viktimisierung resultiert letztlich aus der Definitionsmacht der Täter. (Fussnote 39: Vgl. Hans Vest, Humanitätsverbrechen - Herausforderung für das Individualstrafrecht, ZStW 113 (2001) 479 (...)) /S.382/Die Zahl der Opfer spielt grundsätzlich keine Rolle, namentlich ist nicht von Relevanz, ob sich der tatbestandsmässige Eingriff ins genannte Rechtsgut im konkreten Fall gegen Einzelne oder aber gegen eine Vielzahl von durch die genannten Kriterien bestimmbaren Personen richtet. Auch einzelne tatbestandsmässige Akte gegen Mitglieder der möglichen Opfergruppen können genügen. Vollendeter Völkermord liegt objektiv vor, wenn mehrere Opfer von im folgenden behandelten Vernichtungsakten betroffen werden. Die tatsächliche Vernichtung einer solchen Gruppe ist nicht Voraussetzung für die Erfüllung des objektiven Tatbestandes. Als tatbestandsmässiges Verhalten erfasst Art. 264 Abs.1 lit. a StGB einerseits die Tötung von Mitgliedern einer durch die genannten Kriterien bestimmbaren Gruppe, andererseits erfüllt den Tatbestand auch, wer Mitglieder einer solchen Gruppe in ihrer körperlichen oder geistigen Unversehrtheit schwerwiegend schädigt. Gemäss lit. b macht sich ferner strafbar, wer Mitglieder einer Gruppe "Lebensbedingungen unterwirft, die geeignet sind, die Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten". Während lit. a und b auf direkte physische Vernichtung abzielende Formen des Genozids erfassen, pönalisieren lit. c und d das Treffen von Massnahmen, "die auf Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind". Zweifellos erfüllen Zwangssterilisationen diesen Tatbestand. Ferner sind tatbestandsmässig die Einführung gruppenspezifischer gesetzlicher Eheverbote und -hindernisse, aber auch die Behinderung jedes auf die Nachwuchszeugung gerichteten Geschlechtsverkehrs sowie die erhebliche Erschwerung der Bedingungen für Schwangerschaft und Niederkunft bezüglich einer der genannten Gruppen. (Fussnote 43: Vgl. dazu William Schabas, Genocide in the International Law. The Crime of Crimes. Cambride 2000, 172 ff.) Schliesslich stellt lit. d das gewaltsame Überführen von Kindern einer durch die erwähnten Merkmale definierten Gruppe in eine andere unter Strafe. Der Tatbestand ist mit abgeschlossener Überführung der Kinder in die andere Gruppe /S.383/ vollendet und beendet. Die Verpflanzung braucht nicht den Untergang der Gruppe nach sich zu ziehen. Dies ist die tatbestandsmässige Variante des kulturellen Genozids. (Fussnote 45. Dagegen fallen andere Formen der nachhaltigen Unterdrückung einer Minderheitenkultur, etwa das Verbot einer Minderheitensprache, nicht unter Art. II VMK. Vgl. Schabas 178ff.) Durch Verpflanzung und Umerziehung ihrer Knder wird die Struktur, Identität wie auch der Bestand einer Gruppe als solche existentiell gefährdet. Die Gleichstellung dieses Vorgehens mit der massenhaften Ermordung von Menschen unter dem Titel Genozid scheint unter dem Gesichtspunkt des Unrechts problematisch, zumal die physische Vernichtung eines Volkes durch Massentötungen die ultimative Kumulation höchsten Unrechts verkörpert, während die gewaltsame Überführung von Kindern die Rechtsgüter von Leib und Leben derselben ausspart. (...) Andererseits kann das Leiden der Opfer - Existenz- und Todesangst der zu vernichtenden Menschengruppe bzw. das lebenslange Leid der Mitglieder zerrissener Familien - nicht hierarchisiert werden. Aus Unterabschnitt 2. Der subjektive Tatbestand /S.383/Nur vorsätzliches Handeln ist tatbestandsmässig. Neben dem direkten Vorsatz bezüglich der objektiven Tatbestandsmerkmale ist entsprechend der Formulierung der Norm als Delikt mit überschiessender Innentendenz die Absicht erforderlich, eine durch ihre Staatsangehörigkeit, Rasse, Religion oder ethnische Zugehörigkeit identifizierbare Gruppe als Personenmehrheit ganz oder teilweise zu eliminieren. (...) Aus Abschnitt IV. Die Aktivitäten des "Hilfswerks" im Lichte von Art.264 StGB und Art.II VMK Aus Unterabschnitt 1. Täterschaft und Teilnahme (...)/S.384/ Unzweifelhaft steht fest, dass die Verantwortlichen des 'Hilfswerks', insbesondere Alfred Siegfried, aber auch seine Nachfolgerin Clara Reust, eine für die Kindswegnahmen entscheidende Schlüsselrolle spielten. Sie planten und organisierten diese Wegnahmen und Versetzungen, indem sie systematisch nach jenischen Familien suchten, diese datenmässig erfassten und bei den Behörden vormundschafts- und fürsorgerechtliche Schritte anregten. Durch die planmässige Durchsetzung des Entzugs der elterlichen Gewalt nach Art. 285 aZGB bei den Vormundschaftsbehörden und durch die gezielte Übernahme zahlreicher Vormundschaften wurden sie mit der notwendigen faktischen Tatmacht versehen, die Kinder zwangsweise in andere Familien oder Heime /S.385/ zu überführen. Da die Verantwortlichen des "Hilfswerks" für die Durchführung der Kindswegnahmen und Fremdplatzierungen massgeblich auf die Unterstützung der jweiligen, an und für sich autonomen Vormundschaftsbehörden angewiesen waren, kommt ihnen jedoch keine unbeschränkte selbständige Organisationsherrschaft zu. Das "Hilfswerk" entspricht deshalb nur teilweise dem Bild vom "organisierten Machtapparat", "der im Völkerstrafrecht zur 'Zentralgestalt des Tatgeschehens' erhoben werden muss". (Fussnote 56: Vgl. Hans Vest, Humanitätsverbrechen, 498) Dennoch handelt es sich beim "Hilfwerk" um eine im Rahmen der Pro Juventute vom Staat mitfinanzierte Organisation, die koordiniert mit staatlichen Stellen zusammenwirkte, um die aufgezeigten Ziele zu verfolgen. (...) Die mit der Beaufsichtigung betrauten Vormundschaftsbehörden genehmigten dieses Vorgehen in aller Regel und unterstützten das "Hilfswerk" öfters auch aktiv. Insbesondere der regelmässige Entzug der elterlichen Gewalt ist als wirksamer und entscheidender Tatbeitrag der jeweiligen Vormundschaftsbehörden zu bewerten. Mitunter imponiert das freizügige Gewährenlassen mancher Vormundschaftsbehörden insbesondere gegenüber Siegfried, worin eine Vernachlässigung der Aufsichtspflicht bestehen dürfte, die strafrechtlich unter dem Titel Gehilfenschaft durch Unterlassung interessiert. Viele Psychiater ermöglichten und förderten - die Kindswegnahmen und die damit verbundene langfristige Auflösung der jenischen Gruppe wissentlich und willentlich unterstützend - durch ihre Gutachten die Ziele des "Hilfswerks". Sodann unterstanden die Aktivitäten des "Hilfswerks" der Aufsicht des Stiftungsrates der Pro Juventute, welche die Aktion aktiv unterstützte. (Fussnote 59: Als Stiftungsratspräsidenten amtierten während der kritischen Jahre u.a. die Bundesräte Heinrich Häberlin (1923-1937) und Marcel Pilet-Golaz (1937-1952). Insbesondere Hàberlin sah die zivilierte Gesellschaft der Schweiz durch die Jenischen bedroht und unterstützte Ansehen, Glaubwürdigkeit wie auch das Vorgehen des "Hilfswerks". Eine wichtige Rolle kam auch dem lange Zeit die Stiftungskommission der Pro Juventute präsidierenden, im Kampf gegen die Jenischen engagierten Ulrich Wille jun. zu. Vgl. Egli, Bekämpfung, 78f., 83 f.) (...) /S.386/ Die Hauptverantwortlichen des "Hilfswerks", Siegfried und Reust, erscheinen aufgrund ihrer weitreichenden Tatherrschaft als Haupt- und Organisationstäter. Diversen persönlich Verantwortlichen von Behörden, Kliniken, Heimen, Anstalten und Stiftungsorganen, die auf ihre Weise mehr oder weniger wesentliche, kausale, selbständige und substantielle Tatbeiträge leisteten, dürfte indessen jedenfalls objektiv eine Gehilfen-, allenfalls eine Tatmittlerrolle, zukommen. Aus Unterabschnitt 2. Tatbestandsmässigkeit Aus Absatz a) Objektiver Tatbestand (...)/S.386/ Gemäss Niggli ist eine Ethnie "ein Segment der Bevölkerung, das sich selbst als distinktive Gruppe versteht und das vom Rest der Bevölkerung als eine Gruppe verstanden wird". (Fussnote 64: Marcel Niggli, Rassendiskriminierung. Zürich 1996, 434) Selbstverständnis und Zuschreibung erwachsen aus einer /S.387/ gemeinsamen Geschichte bzw. einem gemeinsamen Schicksal sowie aus einem gemeinsamen zusammenhängenden System von Einstellungen und Verhaltensnormen. Massgebende Kriterien sind demnach gemeinsame Tradition, Brauchtum, Sitte, Weltanschauung (Kosmologie) und Sprache. (Fussnote 65: Vgl. Schabas, Genocide, 126, mit Hinweis auf Fourth Report on the Draft Code of Offences Against the Peace and Security of Mankind, UN Doc.A/CN.4/398,Paragraph 58. Sodann Niggli, Rassendiskriminierung, N 437. Aus ethnosoziologischer Sicht vgl. dazu Christian P. Scherrer, Ethno-Nationalismus. Ursachen, Strukturmerkmale und Dynamik ethnischer Gewaltkonflikte, 2 Bde, Münster 1996/97) Tauglichkeitsvoraussetzung dieser Kriterien zur Definition einer ethnischen Gruppe ist deren soziale Relevanz innerhalb der Gruppe wie auch ausserhalb. Die Herkunft der Jenischen ist wissenschaftlich nicht abschliessend geklärt. Die jüngste Forschung stützt jedoch die ältere Auffassung, wonach die jenische Bevölkerung im Verlauf der frühen Neuzeit hervorging aus einer v.a. im Gebiet der alten Eidgenossenschaft weitverbreiteten nichtsesshaften Minderheit bestehend aus Wanderhandwerkern, Schaustellern, Verarmten, Unehrlichen, nicht resozialisierten ehemaligen Reisläufern, Deserteuren, Konvertiten und zahlreichen Menschen, die aus mannigfaltigen anderen Gründen ihre angestammte, engere Heimat verlassen wollten oder mussten, ohne eine neue zu begründen. (Fussnote 67: Vgl. dazu Thomas Dominik Meier/Rolf Wolfensberger, "Eine Heimat und doch keine". Heimatlose in der Schweiz (16.-19. Jahrhundert. Zürich 1998, 33 ff., und Thomas Huonker, Fahrendes Volk - verfolgt und verfemt. Jenische Lebensläufe. Hrsg. von der Radgenossenschaft der Landstrasse. Zürich 1987, 16ff.) Der Verlust der Heimat und der damit verbundenen Rechte blieb nicht auf die betroffenen Familien beschränkt. Nichtsesshafte Männer und Frauen gründeten Familien, die sich zu Wandersippen mit eigener Kultur und Selbstwahrnehmung entwickelten, welche von Generation zu Generation tradiert wurden. Selbst wenn diese Genese als Fremdzuschreibung verstanden wird - das partikuläre Selbstverständnis der Minderheit erfolgt ohnehin in mannigfacher Wechselwirkung mit Zuschreibungsprozessen - steht ausser Diskussion, dass sich auch die Jenischen selbst im Vergleich zu den übrigen Einwohnern der Schweiz als Gruppe mit eigener Geschichte und gemeinsamem Schicksal wahrnehmen und begreifen. (Fussnote 68: Ein kollektives, ethnisches Gedächtnis kann dabei auch einem wissenschaftlich nicht haltbaren Gründermythos einer gemeinsamen Abstammung verpflichtet sein. Zum heutigen mit den Ergebnissen der Wissenschaft im Widerspruch stehenden Selbstverständnis der Jenischen vgl. Venanz Nobel, "Wie dr Jänisch sich gspient und wie Gaschi di Jänische gspiened". Vortrag gehalten vor der "Arbeitsgruppe zur Geschichte der Jenischen in der Schweiz" vom 25. Mai 2000. In Deutschland hat bereits im Jahr 1986 das OLG Karlsruhe die Zigeuner, die allerdings mit den Jenischen nicht ohne weiteres gleichzusetzen sind, als eigene Ethnie bezeichnet. Vgl. NJW 29 (1986) 1276 f.) Auch verfügen sie über eine mehr oder weniger gemeinsame, jahrhundertealte Tradition (Sippenwanderung, spezifische Gewerbe), /S.388/ über besondere Sitten sowie über eine eigene Sprache. Die jenische Minderheit bildet somit eine eigene ethnische Gruppe. Dies gilt auch für den Zeitraum des "Hilfswerks". Die damalige Fremdwahrnehmung begriff die zeitgenössischen Jenischen ebenfalls als von der Mehrheitsbevölkerung sich deutlich unterscheidende Volksgruppe mit eigener Tradition und Sprache. (Fussnote 71: Siegfried selbst spricht von einem "so gearteten Völklein". Alfred Siegfried, Kinder der Lanstrasse. Zürich 1964, 21) Die externe Prägung der meist als Landfahrer, Spengler, Korber, Vaganten oder Fecker bezeichneten jenischen Gruppen wies - zufolge des Einflusses insbesondere der Psychiatrie jener Zeit - gegenüber heute verstärkt anthropologische Züge auf. Sowohl in ihrem Selbstverständnis wie auch in der Fremdwahrnehmung der definierenden Mehrheit bilden die Jenischen daher für den untersuchten Zeitraum gleichermassen wie heute eine ethnische Gruppe. Es ist sodann zu prüfen, ob die durch Alfred Siegfried und Clara Reust in die Wege geleiteten und oft selbst durchgeführten Kindswegnahmen und anschliessenden Fremdplatzierungen bei Pflegefamilien und Heimen den Tatbestand von Art.264 Abs.1 lit.d erfüllen. (...) Die Wegnahmen erfolgten häufig gewaltsam, da sie gegen den Willen der Eltern, oft unter Drohungen, z.T. auch unter Ausnützung von Notlagen derselben sowie unter Anwendung von List oder physischer Gewalt mittels Polizeiunterstützung durchgeführt wurden. (...) Aus Absatz b) Subjektiver Tatbestand /S.389/Dass Siegfried und seine Nachfolgerin bezüglich der Kindswegnahmen und der Überführung in Pflegefamilien oder Heime direkt vorsätzlich handelten, ist offensichtlich, zumal sie über genaue Kenntnisse darüber verfügten, dass sie Kinder aus jenischen Familien in nichtjenische überführten und dies auch anstrebten. Es bleibt die Absicht zu prüfen. Wie oben dargetan, war die Beseitigung der jenischen Lebensweise das zentrale Ziel des "Hilfswerks". Durch die Überführung in nichtjenische, den ethnischen Majoritäten zuzurechnende Pflegefamiien bzw. in Heime sollten die Kinder der Fahrenden zu sesshaften und in jeder Hinsicht angepassten Mitgliedern der Gesellschaft werden. Dass dadurch die Weitergabe jenischer Lebensart und -kultur nachhaltig geschädigt und damit das Überleben dieser ethnischen Minderheit massiv gefährdet wurde, nahmen die Verantwortlichen nicht bloss in Kauf. Die langfristige Beseitung der Jenischen "als solche" i.S. des Wortlauts von Art.II VMK, als ethnische Minderheit, durch strukturvernichtende Zwangsintegration ihrer Kinder war auch nicht bloss mitgewollte Nebenfolge der Kindswegnahmen, sondern das direkt angestrebte Ziel. Die jenischen Sippen sollten endlich umfassend aufgelöst und damit ausgelöscht werden. Dass sich die Massnahmen nicht allgemein auf die Beseitigung sozialer Not und der daraus resultierenden Zwangsmobilität richteten, wird darin deutlich, dass das "Hilfwerk" unter Berücksichtigung der verwandtschaftlichen Verhältnisse spezifisch nach Trägern jenischer Familiennamen suchte und mit den Kindswegnahmen genau auf diese Gruppe abzielte. Die Absicht beschränkte sich nicht auf eine blosse Umerziehung der Gruppe, sondern zielte auf die Vernichtung der gesamten Gruppe durch tiefgreifende Veränderung des sie definierenden Wesens, dauerhafte Auflösung ihrer Struktur, namentlich durch definitive Beseitigung des die Jenischen massgeblich als Ethnie kennzeichnenden Merkmals des Sippenwanderns. Allfällige wirklich fürsorgerische Motive treten weit hinter die genozidale Absicht zurück. Siegfried war sich bewusst, dass er den ihren Eltern weggenommenen Kindern psychischen Schaden zufügte, was er jedoch bereitwillig in Kauf nahm, da er dies gegenüber der Alternative einer Laufbahn als "Rechtsbrecher, Trinker und Müssiggänger", für die er die Jenischen hielt, bevorzugte. Obschon /S.390/ Siegfried sich darüber im Klaren war, dass es oft an geeigneten Pflegefamilien fehlte, gab er die Kinder lieber in Familien, wo deren leibliches und psychisches Wohl etwa zufolge verschiedenartiger Ausbeutung und Missbrauchs keineswegs garantiert war, als sie in ihren angestammten Verhältnissen zu belassen, woraus deutlich wird, dass ihm das Ziel, die jenische Lebensweise auszulöschen, weit wichtiger als das Wohl seiner Mündel war. Demnach ist auch der subjektive Tatbestand unter den genannten Voraussetzungen erfüllt. Die jeweilige subjektive Perspektive der Helfer und Helfershelfer, insbesondere deren Absicht, muss fallweise rekonstruiert werden. Nur soweit auch bei diesen eine kollektive völkermörderische Absicht vorlag, ist der subjektive Tatbestand erfüllt. Aus Unterabschnitt 3. Rechtfertigung und Schuld /S.390/Die Rechtfertigung eines Völkermordes ist unter Friedens-, ja auch unter Kriegsbedingungen, nicht denkbar, da die Absicht zur Vernichtung einer durch Staatsangehörigkeit, Rasse, Religion oder Ethnie gekennzeichneten Gruppe nie gerechtfertigt werden kann, weshalb Genozid stets rechtswidrig ist. (...)Dass sich das "Hilfswerk" bei seinem Vorgehen i.d.R. rechtlich absicherte, insbesondere die Kindswegnahmen durch den Entzug der elterlichen Gewalt gemäss Art.285 aZGB - oft allerdings erst nachträglich - sanktioniert sowie durch die Anordnung einer Vormundschaft formalrechtlich abgestützt wurden, rechtfertigt aber in keiner Weise den erstellten Tatbestand des Völkermords, zumal die Normen der Art.283 ff. aZGB dem verhältnismässigen Schutz der Kinder dienten, keineswegs jedoch die Vernichtung ihres Volkes erlaubten. (Fussnote 82: August Egger, Kommentar zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch, Bd.2: Das Familienrecht, 2. Aufl., Zürich 1943, 115) Ebensowenig kann in der bisweilen eingeholten Einwilligung der Eltern in die Wegnahme der Kinder ein Rechtfertigungsgrund für den Genozidtatbestand erblickt werden. /S.391/ Würde man die Verantwortlichen des "Hilfwerks" nach ihrem Unrechtsbewusstsein bezüglich ihres deliktischen Verhaltens befragen, erschöpfte sich die Antwort höchstwahrscheinlich in einer umfassenden Negation. Insbesondere die Absicht würde wohl eher mit einer dem Unrechtsgehalt widersprechenden positiven Wertung euphemisiert. Die positive Umbewertung der Absicht schliesst indessen die Kenntnis des Unrechts nicht aus. Auch aus dem sog. Zeitgeist lässt sich keine Entschuldigung ableiten, gedeiht doch der Genozid fast immer auf dem Boden eines düsteren Zeitgeistes, dem zu widersetzen sich aus der Pflicht der Rechtstreue ergibt. Aus Unterabschnitt 4: Rückwirkungsverbot /S.391/ Die VMK war seit 1951 - wenn auch nicht für die Schweiz - , also noch lange während der Tätigkeit des "Hilfswerks" in Kraft. Das hier untersuchte tatbestandsmässige Verhalten fand vor 1973 statt, also längst vor dem Beitritt der Schweiz zur VMK bzw. vor dem Inkrafttreten des Art.264 StGB. Gemäss dem sich aus dem Grundsatz nullum crimen sine lege praevia ergebenden Rückwirkungsverbot von Art.2 StGB darf eine Strafnorm unter dem Vorbehalt der lex mitior nicht auf die durch sie pönalisierten Verhaltensweisen Anwendung finden, wenn die Norm zur Zeit des fraglichen Verhaltens noch keine rechtsverbindliche Geltung besass. (Fussnote 83: Vgl. Jörg Rehberg/Andreas Donatsch, Strafrecht I, 7.Aufl. Zürich 2001, 36f.; Günter Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht. Allgemeiner Teil I, 2. Aufl. Bern 1996, Paragraph 4 N 10 ff.; Stefan Trechsel, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 2. Aufl. Zürich 1997, Art.2) Art.264 StGB kann demnach grundsätzlich nicht zur Anwendung gelangen. Dagegen hat der internationale Gerichtshof in Den Haag in seiner "advisory opinion" die VMK unabhängig von vertraglichen Abmachungen auch für Nichtmitgliedstaaten für bindend erklärt. (Fussnote 84: Auch die Schweiz anerkennt grundsätzlich die Pflicht zur Erfüllung völkerrechtlicher Pflichten, die aus der VMK entstehen, für die Zeit vor dem Beitritt. Vgl. die Botschaft betreffend die VMK im Bundesblatt 1999 V, 5334) Aus dieser Sicht gilt das Verbot des Genozids als Völkergewohnheitsrecht. (Fussnote 85: Vgl. Hans Vest, Zum Verhältnis zwischen Bürgerkrieg und Völkermord in Ruanda, SJZ 96 (2000) 261, mit Hinweis auf ICJ Reports 1951, 23) Ob deliktisches Verhalten im nationalen Binnenkontext erfolgt, braucht nicht gesondert betrachtet zu werden. Da die VMK indessen keine Strafdrohung vorsieht, ist sie nicht direkt anwendbar. Unter Berücksichtigung der jüngsten Entwicklung in Deutschland, wo der BGH im sog. "Mauerschützenprozess" 1996 das Rückwirkungsverbot relativierte, aber auch mit Hinblick auf Art.7 Abs.2 EMRK und Art.15 Abs.2 IPBPR, kann die Rückwirkung bei einem derart gravierenden Delikt nicht a priori ausgeschlossen werden. Gemäss Art.75 Abs.1 Ziff.1 StGB verjährt die Strafverfolgung bei Genozid nicht. Aus Abschnitt V. Schlussbetrachtung (...)Das "Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse" war nicht bloss ein Lapsus, eine im Rückblick fragwürdige, einem bedauerlichen Zeitgeist verhaftete unrühmliche Aktion der Pro Juventute, sondern eine der schwersten Unrechtstaten, einer der gravierendsten Skandale in der Geschichte der Schweiz des 20. Jahrhunderts, die ins Verbrechen kulminierende Klimax eines über Jahrhunderte hinweg unwürdigen Umgangs mit Heimatlosen und Nichtsesshaften überhaupt. (...) Kommentar: |
In seinem hier in einigen ausführlichen Zitaten und mit einem Teil der Fussnoten auszugsweise wiedergegebenen Artikel, dessen gründliche und vollständige Lektüre sehr zu empfehlen ist, legt Prof. Dr. Lukas Gschwend subtil und präzise dar, dass es sich bei der systematischen Verfolgung der Jenischen in der Schweiz um subjektive und objektive Tatbestände des Völkermords handelte. In Kenntnis des Umstands, dass sowohl Art.75bis wie Art.264 des schweizerischen Strafgesetzbuches zwar die strafrechtliche Verfolgung und die Unverjährbarkeit des Völkermords verspätet auch ins schweizerische Recht einführen, jedoch gerade gegenüber diesen auf Vernichtung der Jenischen als Gruppe in der Schweiz zielenden Tatbeständen mit zuerst auf den 15. Januar 1983, später auf den 15. Dezember 2000 datierten Ausschlussklauseln operieren, bezweifelt Prof. Dr. Lukas Gschwend im Hinblick auf das internationale Recht, das Völkergewohnheitsrecht und einige Präzedenzfälle im Ausland, ob die Rückwirkungsverbotsklauseln in Art.75bis und Art. 264 StGB eine strafrechtliche Verfolgung des Völkermords an den Schweizer Jenischen wirklich definitv zu verhindern imstande sein werden. Es ist eine Ironie der Publizistik und der schweizerischen Rechtsgeschichte, dass dieser Artikel in der Festschrift für Prof. Dr. Stefan Trechsel erschien. Stefan Trechsel war als Jurist in verschiedenen Gremien aktiv, als ab 1973 das Vorgehen des "Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse" allgemein publik wurde. Bis 1975 war er Staatsanwalt in Bern, ab 1975 war er Mitglied der Europäischen Menschenrechtskommission. Er hat indessen so wenig wie andere Juristen die Verantwortlichen eingeklagt, auch nicht auf persönliches Ersuchen einzelner Betroffener hin. Hingegen war seine Gattin Franca Trechsel als Mitglied der Aktenkommission tätig, welche die Akten des "Hilfswerks", entgegen der schon damals auch von Mitgliedern der verfolgten Gruppe vertretenen Auffassung, diese Akten seien Beweisstücke von Tatbeständen des Völkermords, als Vormundschaftsakten auffasste und den Betroffenen nicht in ihrer Gesamtheit, sondern sortiert nach einzelnen Personenakten, unter Ausschluss von Dokumenten personenübergreifender Art, teilweise zugänglich machte. Richterliche Entscheide schweizerischer, ausländischer oder internationaler Tribunale betreffend die von Prof. Dr. Lukas Gschwend geschilderten Tatbestände und die Versuche von deren rückwirkender Ausschliessung aus juristischer Beurteilung durch spezielle Klauseln fehlen. Alle Verfahren betreffend Völkermord, die bislang in der Schweiz eingeleitet wurden, betrafen Taten und Täter des Auslands, welche allerdings teilweise in der Schweiz lebten. Wiewohl der Aufsatz von Prof. Dr. Lukas Gschwend eine wichtige Lücke der schweizerischen Rechtswissenschaft mit klaren Worten füllt, erzeugt er seinerseits das Desiderat einer weiteren juristischen Abhandlung, der es obliegen würde zu untersuchen, unter welche allfälligen juristischen Tatbestände die ausgeklügelte Verhinderung und Verzögerung der Umsetzung internationaler Strafrechtsnormen betreffend Völkermord in den schweizerischen Rechtsvollzug seit 1951, als die Genozidkonvention der UNO in Kraft trat, einzustufen ist. Das Buch von Nadja Capus: Ewig still steht die Vergangenheit? Der unvergängliche Strafverfolgungsanspruch nach schweizerischem Recht. Bern 2006, hat nun diese nötigen Präzisierungen mit aller wünschbaren Klarheit geliefert. Jedoch hat auch dessen Erscheinen kinee Strafverfolgungsbehörde dazu gebracht, in Sachen der oben geschilderten Tatbestände im Inland, die Offizialdelikte sind, ein Strafverfahren einzuleiten |
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