Dokument Nr. 25: Zitate aus dem Buch von Linus Birchler: Vielfalt der Urschweiz, Olten 1969
p.117: Eine Stufe unter den Genossenschaftsbürgern stehen die Beisassen, unter diesem Namen auch in anderen Kantonen bekannt. Ihre Rechtsstellung ist von Kanton zu Kanton und besonders in der Urschweiz so verschieden wie die der Genossenbürger. Bis 1798, teilweise sogar bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts hinein, besassen sie als Zugezogene nicht die vollen Bürgerrechte ihres Wohnortes. In Schwyz machten sie etwa einen Achtel der Bevölkerung aus. Sie waren Handwerker und Händler. Ihnen wurde nur selten das Landrecht (das volle Bürgerrecht) und dann gegen hohe Einkaufssummen erteilt, das letzte Mal 1716 an sechs Familien. p. 118 Den untersten Platz nehmen in der Urschweiz und in anderen Bergkantonen (besonders Graubünden) die (...) Tolerierten oder Neubürger ein, die ehemaligen Heimatlosen, die in letzter Linie von den fahrenden Leuten des Mittelalters abstammen, vor allem von den Sängern und Spielleuten, die nicht sesshaft sein konnten. 1407 wurde in der Heiligkreuzkirche von Uznach eine eigene Berufsorganisation der Spielleute vom obern Zürichsee (Bruderschaft) errichtet, umfassend 'farend Lüt, Giger und Pfiffer'. Heute bezeichnet man sie gemeinhin als Fäcker, Vaganten oder Vagabunden. Sie fallen oft durch rassige Schönheit auf; ein Schuss fremden Blutes rumort in ihnen. Bis in die Neuzeit hinein waren sie schwer sesshaft zu machen und bedeuten da und dort noch immer ein schwieriges soziales Problem. Die Eidgenossenschaft hat sie durch ein eigenes Gesetz von 1851 jenen Gemeinde zugeteilt, in denen sie damals hausten. In weiten Gebieten der Urschweiz werden sie heute leider als eine Art Parias behandelt; ihre Namen sind oft geradezu ein Brandmal. So konnte eine mir bekannte tüchtige Lehrerin aus diesem Stand nur entfernt von ihrem Heimatkantoneine Anstellung fin/p.119/den; ein recht hablich gewordener Handwerker aus dieser Klasse, der sich dank seiner Tüchtigkeit sogar ein Ferienhäuschen bauen konnte, versicherte mir, dass in seiner Heimat Heiraten zwischen Bürgerlichen und seinesgleichen noch heute undenkbar seien. Mag es also dem einen oder anderen Tolerierten gelingen, in einen bürgerlichen Beruf aufzurücken, so führen doch viele von ihnen weiterhin eine Art von Nomadenleben - gleich den Zigeunern, mit denen man sie aber nicht verwechseln darf - und ziehen, sobald das Wetter erlaubt, mit Plachenwagen und neuestens mit alten Automobilen weit in der Welt herum; sie begegnen einem unten in der Camargue, recht häufig auch im französischsprachigen Jura. Ihre traditionellen Handwerke sind Korbflechten, Scherenschleifen, Kesselflicken. Bis zu der Anlage des Stausees war zum Beispiel das Fischen im Einsiedlerland, da es als ehrlos galt, zur Hauptsache dieser besonderen Klasse vorbehalten. Von einem jungen Freunde weiss ich, dass er, als er fischen gehen wollte, vom Vater grimmig ausgescholten wurde:'Schäm dich!' Nach 1851 wussten einzelne Gemeinden diese Neubürger gegen Entgelt und entsprechende schriftliche Erklärung nach Amerika abzuschieben; andere Gemeinden stöhnen noch heute unter ihrer Last. Zur Hauptsache sind es aber durchaus ehrenwerte Leute. Übrigens sind an verschiedenen Orten einzelne Stämme altbürgerlicher Familien meist durch Heirat in diese Klasse hinabgesunken. |
Kommentar: Wie schon im Text von Heinrich Zschokke in Dokument Nr. 30 wird hier die soziale Abstufung in der Urschweiz und insbesondere die Stellung der Jenischen, die in der Innerschweiz als "Fekker" ode "Fäcker" und vielerorts als "Vaganten" bezeichnet wurden, ganz unten in der sozialen Rangordnung des Kantons resp. der Alpenregion Schwyz dargestellt. Erstaunlich ist jedoch das Datum der Publikation (1969). Der Verfasser, Linus Birchler (1893 - 1967), trug selber den Namen einer Familie aus Einsiedeln, von denen es sowohl "sesshafte", also "bürgerliche", wie auch jenische Zweige gibt. Dasselbe gilt für die Familiennamen Gerzner, Kappeler, Huser und Hürlimann. Linus Birchler lebte gewissermassen im Exil in Zürich, wo er an der ETH als Professor für Kunstgeschichte und Experte für Denkmalpflege wirkte. Sein Text geht zwar auf Distanz zur vollen Krassheit der Haltungen vieler seiner Landsleute gegenüber ihren "Parias", teilt aber auch gewisse Wertungen, wenn er die Jenischen als "Problem" und als "Last" sowie als Gruppe schildert, in die hineinzuheiraten er als ein "Absinken" bezeichnet. Der Text macht klar, aus welchen Haltungen heraus die Bezirks- und Vormundschaftsbehörden von Einsiedeln, Küssnacht und Schübelbach ihre jenischen Mitbürger bis in die 1980er Jahre einem Regime unterzogen, das Kindswegnahmen, Einweisungen in Heime, Sonderschulen und Anstalten, insbesondere in die Zwangsarbeitsanstalt Kaltbach umfasste, sowie in einzelnen Fällen auch Zwangssterilisation. Diese gegen die Gruppe der Jenischen gerichteten Spezialmassnahmen standen ganz in Parallele zu den seit kurzem besser erforschten Verfolgungsstrategien der Stiftung Pro Juventute gegenüber den Jenischen aus anderen Kantonen. Zu diesen Zwangsmassnahmen gegenüber den Jenischen im Kanton Schwyz gibt es noch wenig Literatur. Vgl. Thomas Huonker: Jenische in der Schweiz: Lange kostenintensiv verfolgt, seit kurzem sparsam gefördert. Bemerkungen zu Vielfalt und Ausgrenzung sowie zum Unterschied zwischen Anpassungszwang und Integration, in: Fördern und Fordern im Fokus. Sozialer Zusammenhalt und kultureller Pluralismus. Herausgegeben von Esteban Pineiro, Isabelle Bopp und Georg Kreis, Zürich 2009, p. 229 - 258 |