«Meine Eltern betrieben einen Kleinbauernbetrieb. Wir besassen drei Kühe und etwas Kleinvieh», beginnt Albrecht Z. seine Ausführungen: «Wir lebten arm, doch waren wir zufrieden. Es gab genügend zu essen und alle hatten Kleidung». Als der Junge gerade mal fünf Jahre alt war, erkrankte der Vater an einer unheilbaren Lungenkrankheit. Da entschied die Gemeinde*, dass den drei Jüngsten der 13 Kinder eine strengere Erziehung zuteil kommen sollte, zumal der Vater zu krank sei, die Kleinen zum Arbeiten anzuweisen. So fuhr eines Tages unangemeldet ein Mann mit Pferd und Wagen vor und herrschte die Mutter an: «Gib mir den Bengel, so lernt er endlich arbeiten! Der Fünfjährige kam zu einem Garten- und Gemüsebauern, welcher regelmässig auf dem Markt seine Waren verkaufte. Nebst Albrecht lebte noch ein verdingtes Mädchen auf dem Hof. Am Morgen hiess es in aller Herrgottsfrühe aufstehen und arbeiten: «Uns schickten sie fast täglich mit einem Handziehwägelchen auf die Strasse zum Pferdeäpfel aufsammeln. «Der Bauer brauchte diese als Mist für den Garten», erläutert er und fährt fort: Brachten wir zuwenig Mist nach Hause, gab es kein Nachtessen». Einmal verliefen sich die zwei kleinen Kinder im Wald. Es dunkelte bereits ein, als ein Vorübergehender die Beiden fand und nach Hause brachte.
Albrecht Z. rückt sich in seinem Stuhl auf der Gartenterrasse zurecht, blickt seine reich tragenden Obstbäume an. Doch der entspannte Ausdruck in seinem Gesicht weicht, als er die Strafe beschreibt, welche den Verdingkindern wartete: «Zuerst schlug uns der Bauer halb tot. Anschliessend zerrte uns die Frau in die Waschküche, wo sie heisses Wasser in die Badewanne laufen liess. Sie schloss die Tür ab und sagte, sie wolle uns lehren, rechtzeitig heimzukehren». Die Kinder schrien in Todesangst. Dies hörte der Hund des Nachbarn und bellte wie verrückt. Offenbar war dem Nachbarn bekannt, zu was die Meistersleute fähig waren. Er klopfte und als niemand öffnete, schlug er die Türe ein. Doch die Frau hatte das Mädchen schon ins heisse Bad gesteckt. Der Retter nahm uns zu sich nach Hause. «Ich weiss nicht mehr viel von diesem Abend, nur, dass ich im Bett lag, neben mir der Hund, den ich streichelte bis ich in den Schlaf fand». Dieser Hund strömte etwas aus, was er von Menschen nie gespürt hatte, eine Ruhe und Schutz. Das Mädchen kam mit schwersten Verbrennungen ins Spital. Albrecht Z. hat es nie mehr gesehen und vermutet, das es seinen Verletzungen erlegen sei. Der stark unterernährte Junge wurde ebenfalls ins Spital eingeliefert, wo er es genoss, umsorgt zu werden.
Anstatt ihn zu seiner Familie zu bringen, fand die Behörde einen neuen Pflegeplatz für den Buben. Es handelte sich um ein kinderloses Ehepaar. Die Frau lebte fanatisch religiös. Hier erhielt er genügend zu essen. Kleider bekam er alte zum Austragen, Schuhe wurden jeden Herbst welche angefertigt, die bis zum Frühling halten mussten, auch wenn sie inzwischen zu klein geworden waren und schmerzten: «Den Sommer verbrachten wir jeweils barfuss». Nur wenn die Aufsichtsperson für Pflegekinder zwischen Weihnachten und Neujahr den obligaten, angemeldeten Besuch abstattete, durfte der Junge schöne Kleidung anziehen. «Was du auf Erden leidest, so viel geniesst du später im Himmel», sagte die Frau jeweils zu ihm Die Bauersleute erhielten für das zu betreuende Kind pro Tag 1 Franken 50 Rappen, was für damalige Verhältnisse ein rentables Nebeneinkommen bedeutete. Albrecht besuchte mit seinen inzwischen sieben Jahren bereits die Schule. Die Zieheltern unterstützten ihn nicht im Lernen, dafür musste er Stunden mit dem Studium der Bibel verbringen.
In der Familie lebte ausserdem der Vater des Pflegevaters: «Er war so geduldet wie ich. Beim Grossvater aber erhielt ich etwas Liebe und Trost». Der alte Mann brachte Albrecht eines Tages ein junges Hundli vom Markt mit. Doch die Frau schrie, dass dieser Hund sofort entfernt werden müsse. Schweren Herzens brachte der Grossvater das Tierchen wieder weg. Die Herkunftsfamilie des Knaben lebte zwei Dörfer nebenan, eine Distanz von einem Kilometer, doch der Bub durfte nie zu Besuch gehen. Als der Vater 1948 im Sterben lag, kam die Nachbarin, um Albrecht zu melden, er und seine Geschwister sollten zu ihm. Er machte sich auf den Weg zum Hof, wo seine beiden jüngeren Geschwister verdingt waren, um sie abzuholen. Da kam der Bauer vorbei und fragte, was er wolle. Auf die Antwort, dass der Vater am Sterben sei, meinte er: «Hau ab, der Alte kann auch ohne euch sterben». Der Druck, der auf ihm lastete war so gross und er fühlte sich unglücklich. Fast jede Nacht nässte der Junge ein: «Manchmal schlief ich im Stall, damit ich nicht ins Bett machte.»
Das Schlimmste war die Schule: «Da ging ich durch die Hölle». Der Lehrer war gleichzeitig Gemeindeschreiber und -kassier. Wenn sich Albrecht einmal wagte, sich bei den Pflegeeltern zu beklagen, hiess es: «Wir können nichts machen, sonst sind wir im Dorf nicht mehr angesehen». Dabei hatte der Junge viel zu leiden. Täglich schlug ihn der Lehrer aus diffusen Gründen. Als dieser einmal zu hart durchgriff, blutete der Junge aus dem Ohr und konnte dem Unterricht aus Benommenheit nicht mehr folgen. Doch dieser Vorfall blieb ohne Folgen. Er gehörte mit zwei anderen Verdingkindern zu den geächteten Aussenseitern: «Der Lehrer nannte mich nie beim Namen, ich war bloss der Dummkopf oder Taugenichts. Verdingte Kinder empfand er sowieso als schädlich». Albrechts Diktate schrieb er immer an die Wandtafel und rief in die Klasse: «Seht her, was der Dummkopf geschrieben hat!» Auf Grund einer Schreibschwäche unterliefen Albrecht viele Fehler, er verdrehte und verwechselte die Buchstaben. Jahre später sollte er erfahren, dass diese Schwierigkeit Legasthenie heisst und mit richtiger Förderung überwunden werden kann. Auf dem Schulweg erlitt er manche Hänselei und rannte oft vergebens vor Schlägen davon. Manchmal wartete der Hund eines Dorfbauern auf dem Weg auf den Buben, dann konnte er beschützt und ohne Angst heim gehen. Die Zeit der Demütigungen dauerte bis ins neunte Schuljahr. Da trat ein neuer Lehrer das Amt an, der die Ressourcen Albrechts erkannte und förderte.
Der junge Mann liebte Tiere und hätte gerne in einem Pferdedepot in der Pferdezucht gearbeitet. Voller Hoffnung erwartete er den Besuch des Vormunds, da er guten Bericht abstatten wollte: «Der neue Lehrer hatte mir eine Stelle im Pferdedepot organisiert. Ich freute mich sehr». Umso mehr fiel er in ein Loch, als dieser mit den Pflegeeltern seine Pläne als nichtig bezeichnete. Zuerst habe er vom Frühling bis zum Neujahr seine Konfirmationskleidung abzuarbeiten, hiess es. Danach könne er zum Bruder der Pflegemutter, einem Grossbauern und Prediger, arbeiten gehen: «Und wenn du nicht parierst, kommst du in ein Erziehungsheim». So schuftete er Tag für Tag. Am Sonntag, wenn der Bauer zum predigen ging, musste der 17-Jährige die 17 Kühe alleine von Hand melken. Erst als der älteste Bruder die Vormundschaft über Albrecht Z. übernehmen konnte, ging die Leidenszeit dem Ende zu.
Ein Unfall mit 19 Jahren brachte ihn wieder einmal ins Spital. «Damals wurde man erst entlassen, wenn alles verheilt war», lacht er. Auf dem Weg zur Genesung machte er sich bei den Schwestern nützlich. Die Arbeit im Gesundheitswesen gefiel ihm ausserordentlich. Am 1. Mai 1955 durfte er eine Lehre als Krankenpfleger beginnen. Die traumatischen Erlebnisse in der Schule begleiteten ihn noch lange. Dank Kursen in Rechtschreibung hatte er im Schreiben keine Mühe mehr, doch die Angst blieb trotzdem. Bis lange ins Erwachsenenalter zitterte er und bekam Schweissausbrüche, wenn er in Anwesenheit von jemandem schreiben musste. In der Krankenpflegeschule lernte er seine zukünftige Frau kennen. Die beiden gründeten eine Familie und bekamen zwei Kinder. «Diese standen im Mittelpunkt von meinen Bemühungen». Er und seine Frau achteten darauf, Paten auszuwählen, welche im Notfall die Kinder bei sich aufnehmen würden: «Man weiss nie, und ich hatte kein Vertrauen in die Behörden mehr». Er kletterte die Karriereleiter hoch, absolvierte am Berner Inselspital die Fachausbildung zum Operationspfleger. Nach neun Jahren wechselte er ans Regionalspital Thun und wurde Leiter vom Operations- und Gipszimmer-Fachpersonal mit Notfall/Ambulanz. Hier war er 31 Jahre bis zu seiner Pensionierung tätig.
Er dauerte zwölf Jahre, bis er gegenüber seiner Frau antönen konnte, welch schreckliche Kindheit er hatte. Die Details erfuhr sie erst kürzlich. Ebenso die Kinder. Lange Zeit ging er nie an eine Klassenzusammenkunft. Alle waren sie jetzt erwachsen und doch blieben die Gefühle der Ausgrenzung. Auch hemmte ihn die Angst, auszurasten. Zu gross war der Hass, die Erinnerung an das Hohngelächter. «Ich ging erst, als ich mich beruflich behauptet und ein Haus gebaut hatte. Da staunten sie, was aus dem Dummkopf geworden war». Einige der ehemaligen Schulkollegen hätten sich sehr gefreut, andere mussten ihrer Missgunst Herr werden. Das alte Schulhaus stehe noch, berichtet Albrecht Z., doch er habe es nicht über sich gebracht, es zu betreten. So wie auch die beiden Häuser, in denen er verdingt worden sei. Deshalb besitzt er kein einziges Foto aus seiner Jugend. «Es gab eines, das Konfirmationsfoto. Das stand bei den Pflegeeltern. Doch ich bekam es nicht. Und als ich ging, wollte ich alles hinter mir lassen und nichts Erinnerndes mitnehmen». Zur Herkunftsfamilie hat er wieder zurückgefunden. Die Geschwister stehen in regem Kontakt, sie wollen sich nie wieder verlieren. Er steht auf, wandert gemächlich durch den Garten. Das ist seine Gegenwart. Die Familie, die fest zusammenhält, ein Zuhause und Geborgenheit. Sehr wichtig sind ihm auch Tiere. Nebst Kaninchen hält er seit 40 Jahren Hunde. Nie hat er vergessen, wie diese Tiere ihm in schwierigen Lebenssituationen zur Seite gestanden sind.
(aus: Jungfrau-Zeitung, Interlaken, 06. September 2006)