Dokument Nr. 5: Der Zürcher Kantonsrat und Aufarbeitung der Geschichte der Jenischen (Stand 1997/98)
Protokoll des Zürcher Kantonsrates 166. Sitzung, Montag, 25. Mai 1998, 14.30 Uhr Vorsitz: Kurt Schellenberg (FDP, Wetzikon) Verhandlungsgegenstände: (...) 16. Einsichtsrecht in medizinische und psychiatrische Akten im Zusammenhang mit der Verfolgung und Diffamierung von Jenischen sowie Bestandessicherung und Aufarbeitung dieser Akten. Interpellation Thomas Huonker (SP, Zürich) und Gabrielle Keller (SP, Turbenthal) vom 14. April 1997 (schriftlich begründet) KR-Nr. 121/1997, RRB-Nr. 1173/4.6.1997 Die Interpellation hat folgenden Wortlaut: Im Zuge einer umfassenden und ehrlichen Aufarbeitung der Schweizer Geschichte steht auch die Rolle von Medizin und Psychiatrie gegenüber der Volksgruppe der Jenischen zur Debatte. Wir bitten den Regierungsrat um Beantwortung folgender Fragen: 1. Ist der Regierungsrat auch der Ansicht, dass medizinische und psychiatrische Befunde und Behandlungen in Respekt und Rücksicht auf die ethnische, kulturelle und religiöse Zugehörigkeit der Untersuchten und Behandelten stattzufinden haben, dass es aber nicht angeht, ethnische, kulturelle oder religiöse Menschengruppen durch Befunde oder Behandlungen herabzusetzen oder zu schädigen? 2. Ist der Regierungsrat auch der Ansicht, dass, ungeachtet ihrer Herkunft und Zugehörigkeit, allen Patienten und Patientinnen das Recht auf kostenlose Zustellung der vollständigen Krankengeschichte zusteht? 3. Ist sich der Regierungsrat der Tatsache bewusst, dass Mündel des sogenannten "Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse", deren Eltern und Verwandte sowie andere Jenische als Opfer eines gezielten Nachwuchsverhinderungs- und Familienzerstörungsprogramms auch in Zürcher Spitälern und psychiatrischen Kliniken speziellen Untersuchungen unterzogen worden sind? Betroffene berichten unter anderem von Zwangssterilisationen, Elektroschocks und Schädelvermessungen. 4. Ein führender Wissenschafter des nationalsozialistischen Programms zur "Ausmerzung" von "Zigeunerbastarden" und "Strolchengeschlechtern", Dr.phil.et med. Robert Ritter, war in der Anfangszeit des gesamtschweizerischen Programms gegen die Familien der Fahrenden Assistenzarzt am Burghölzli. Könnte es sein, dass er von den einschlägigen diffamierenden "Forschungen" schweizerischer Psychiater wie Dr. Jörger betreffend die angebliche "erbliche Minderwertigkeit" unserer jenischen Mitbürgerinnen und Mitbürger beeinflusst worden ist? 5. Anerkennt und unterstützt der Regierungsrat das legitime Interesse der Betroffenen und ihrer Organisationen an der Sicherstellung, Sichtung, Aufarbeitung und Korrektur diesbezüglicher Akten insbesondere auch aus Medizin und Psychiatrie, nachdem andere diesbezügliche Akten nur noch als "Aktenrestbestand" vorliegen? 6. Jenische Mitbürgerinnen und Mitbürger, denen der Bund eine finanzielle "Wiedergutmachung" zugestand, haben teilweise die ihnen versprochenen Beträge nicht oder nur teilweise erhalten. Wie viele Personen im Kanton Zürich sind in dieser Lage? 7. Wie schätzt der Regierungsrat zurzeit die Mitverantwortung und Mitschuld des Standes Zürich in dieser Verfolgungsgeschichte ein, und wie gedenkt er, seine Wiedergutmachungspflicht weiter wahrzunehmen? Begründung: Das Selbstverständnis der Schweiz steckt in einer Krise. Neuere Erkenntnisse über die Rolle unseres Landes im Lauf der Geschichte werfen hohe Wellen. Umfassende Abklärungen sind notwendig, um Gegenwart und Zukunft konstruktiv anzugehen. Dazu gehören auch ehrliche Abklärungen über die Rolle von Medizin und Psychiatrie gegenüber Jenischen, die - hauptsächlich als Opfer der Pro Juventute-Aktion "Kinder der Landstrasse" - im Kanton Zürich Schaden erlitten haben. Wir sind davon überzeugt, dass die Zürcher Regierung und das Parlament ihre diesbezügliche Verantwortung zügig wahrnehmen müssen. Der Regierungsrat antwortet auf Antrag der Direktion des Gesundheitswesens wie folgt: 1. Im Kanton Zürich sind die staatlichen und privaten Organisationen und Institutionen des Gesundheitswesens beauftragt, in ihrem Bereich für eine gleichbleibend gute medizinische Versorgung für jedermann zu sorgen. Dieser Auftrag wird laufend umgesetzt. Diskriminierungen von Angehörigen bestimmter Menschengruppen sind nicht bekannt. 2. Die Einsichtnahme in die Krankengeschichten ist in der Patientenrechtverordnung vom 28. August 1991 geregelt. Patientinnen und Patienten haben jederzeit das Recht, in ihre Unterlagen Einsicht zu nehmen. Auf Wunsch werden auch Kopien der Unterlagen abgegeben. Für die Aktenauflage und das Anfertigen von Kopien ist in der Regel eine kostendeckende Gebühr zu erheben. Bei besonderen Ausgangslagen wie Einsichtsbegehren von seinerzeit in einer Klinik untergebrachten jenischen Patientinnen und Patienten soll von der Gebührenauflage abgesehen werden. 3. Die Gesundheitsdirektion hat in den psychiatrischen Kliniken im Kanton Zürich sowie am Universitätsspital und am Kantonsspital Winterthur eine Vernehmlassung durchgeführt. Die Krankenhäuser haben unterschiedslos geantwortet, dass sie keine Kenntnis von Krankengeschichten haben, aus denen sich Hinweise auf Diskriminierungen von jenischen Patientinnen und Patienten ergeben würden. Soweit sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Krankenhäuser erinnern, wurden in den Zürcher Spitälern weder Jenische noch Angehörige anderer Menschengruppen je irgendwelchen Nachwuchsverhinderungs- oder Familienzerstörungsprogrammen unterzogen. Elektroschocks und Zwangssterilisationen sind vor der Entwicklung und Verbreitung von Psychopharmaka und anderen modernen Medikamenten gegen Psychischerkrankungen noch bis Mitte dieses Jahrhunderts bei Patientinnen und Patienten ohne Rücksicht auf Herkunft, Kultur oder Religion angewandt worden. In einer Klinik wurden Unterlagen über Schädelvermessungen bei verschiedenen Personen gefunden. Davon betroffen waren jedoch in keinem einzigen Fall jenische Patientinnen und Patienten. Es muss aber angemerkt werden, dass mögliche Diskriminierungen Jahrzehnte zurückliegen würden und entsprechende Krankengeschichten nur über konkrete Angaben ausfindig gemacht werden könnten, weshalb nicht definitiv ausgeschlossen werden kann, dass sich solche Vorkommnisse auch im Kanton Zürich ereignet haben. 4. Die medizinhistorische Forschung im angesprochenen Bereich steht erst in den Anfängen. Es steht indessen offenbar fest, dass Ende des letzten Jahrhunderts und zu Beginn dieses Jahrhunderts in der deutschen Psychiatrie und auch an der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich biologische Reinhaltetheorien Sympathie fanden. Ein Dr. Robert Ritter arbeitete von 1931 bis 1932 als Assistenzarzt im Burghölzli, Zürich. Inwieweit er während seiner Assistenzjahre eugenische Überzeugungen hatte, entzieht sich der Kenntnis der Ärztinnen und Ärzte der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. In diesem Zusammenhang wurden die Geschäftsberichte des Regierungsrates und der kantonalen psychiatrischen Kliniken von 1930 bis 1935 überprüft. Aus den Jahresberichten 1932, 1933 und 1934 der "Heil- und Pflegeanstalt Rheinau" ergab sich, dass der dort als Oberarzt tätige Dr. W. Plattner u.a. eine Arbeit zum Thema "Körperbauuntersuchungen bei Schizophrenen" schrieb, die im Archiv der Julius Klaus-Stiftung für Vererbungsforschung, Sozialanthropologie und Rassenhygiene, Zürich 1932, erschienen ist und als Separatdruck herausgegeben wurde. Im weiteren hat Dr. W. Plattner 1933 Arbeiten über "Die metrische Gesichtsprofilbestimmung am Lebenden" und "Die Rassenmischung und die Beziehungen zwischen Rasse und Konstitutionstypen bei Schizophrenen" publiziert und 1934 einen Bericht über "Metrische Körperbaudiagnostik" veröffentlicht. Weitere Hinweise auf Forschungen unter dem Titel "Rassenhygiene" oder auf Diskriminierungen von Zugehörigen zu Minderheiten gab es nicht. 5. Bereits im Jahre 1988 haben 24 Kantone, darunter auch der Kanton Zürich, eine interkantonale Vereinbarung mit dem Ziel abgeschlossen, zu klären, ob und in welchem Umfang Begehren von Betroffenen des ehemaligen Hilfswerks "Kinder der Landstrasse" um Einsicht in ihre Akten entsprochen werden kann. Es wurde eine eigene Aktenkommission eingesetzt, die Gesuche Betroffener entgegennahm, Akten einverlangte und den Entscheid zuhanden der zuständigen Behörde vorbereitete. Soweit heute noch feststellbar, hat die Gesundheitsdirektion zwischen 1988 und 1992 insgesamt vier Anfragen von der Aktenkommission erhalten und diese zur direkten Beantwortung an die Kliniken weitergeleitet. Die Kliniken haben die Akten, soweit vorhanden, direkt an die Kommission ediert. Bis April 1993 hatte die Aktenkommission alle hängigen Einsichtsgesuche bearbeitet und entsprechend Akteneinsicht gewährt. Die Akten selbst wurden beim Schweizerischen Bundesarchiv zentral gelagert. Der Aktenzugang für die Betroffenen ist inzwischen gemäss Auskunft des Bundesamts für Kultur wieder gewährleistet, nachdem die Unterlagen nach Abschluss der Tätigkeit der Aktenkommission vorerst verschlossen wurden. Im Rahmen der Wiedergutmachungsbestrebungen wurden verschiedene Institutionen gebildet. 1988 bewilligten die eidgenössischen Räte 3,5 Mio. Franken aus allgemeinen Bundesgeldern zur Äufnung eines Fonds für eine erste finanzielle Wiedergutmachung für die Kinder der Landstrasse. Nach dem Schlussbericht der Fondskommission wurden im Sinne von Sofortmassnahmen und als Vorausleistungen an insgesamt 1115 Empfänger je nach Betroffenheitsgrad zwischen 2000 und 7000 Franken ausbezahlt. Für die abschliessenden Entschädigungszahlungen bewilligten die eidgenössischen Räte in einer zweiten Phase 1992 einen zusätzlichen Betrag von noch einmal 7,5 Mio. Franken. In dieser zweiten Phase wurden Schwerbetroffenen zusätzliche Genugtuungssummen bis zu 20'000 Franken ausbezahlt. An wie viele Personen aus dem Kanton Zürich Beiträge gezahlt wurden, ist dem Regierungsrat nicht bekannt und konnte auch beim Bund nicht in Erfahrung gebracht werden. 6. Gemäss Auskunft eines Mitglieds der Fondskommission kann mit Bestimmtheit gesagt werden, dass alle Personen, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu der jenischen Volksgruppe in der untersuchten Zeitspanne Diskriminierung und Verfolgung erfahren haben und sich bei der Kommission gemeldet haben, Entschädigungsbeträge zwischen 2000 und 20'000 Franken erhalten haben. 7. Gemäss Auskunft des Bundesamts für Kultur ist vom Bundesrat 1993 eine Studie zur wissenschaftlichen Klärung und Aufarbeitung der gegen Jenische gerichteten Verfolgungen bei Prof. Sablonier, Universität Zürich, in Auftrag gegeben worden. Die Studie ist gemäss Auskunft von Prof. Sablonier noch nicht abgeschlossen; aufgrund seiner Einschätzung kann erst nach Abschluss der Arbeit die Verantwortung und Rolle der einzelnen Beteiligten beurteilt werden. Nachdem die Problematik gesamtschweizerisch aufgearbeitet wurde und wird und sich auch die entsprechenden Akten im Bundesarchiv befinden, besteht für den Kanton Zürich jedenfalls vorderhand und bis zum Abschluss der Forschungsarbeiten auf Bundesebene kein eigener Handlungsbedarf. Daran ändert nichts, dass die Jenischen gesamtschweizerisch wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Minderheit teilweise unvorstellbares Leid erfahren mussten und dass das Verhalten der Beteiligten menschenverachtend und unentschuldbar war. Je nach Ausgang der Abklärungen beim Bund wird sich der Kanton Zürich wieder mit der Frage nach eigenem Handlungsbedarf auseinandersetzen müssen. Thomas Huonker (SP, Zürich): Seit einem Jahr ist in der Schweiz einiges in Gang gekommen betreffend Aufarbeitung der jüngeren Geschichte. Ausgehend von den nachrichtenlosen Vermögen und der unsäglichen Hinhaltetaktik von Behörden und Banken gegenüber überlebenden Holocaust-Opfern sind die Volcker-Kommission, die Kommission Bergier und die Gremien des Holocaust-Fonds eingerichtet worden. In diesen Gremien, die auf Druck der Opferseite hin zustandegekommen sind, haben die Vertreter der Opfer eine wichtige, teils bestimmende Funktion. Ich bin überzeugt, dass diese Art Vergangenheitsaufarbeitung ein guter Weg ist. Ich persönlich bin dabei als Mitarbeiter der Kommission Bergier zu einem kleinen Teil mitinvolviert. Demgegenüber ist bei den Abklärungen betreffend Verfolgung und Schädigung der Schweizer Jenischen nicht nur in der Zeit des zweiten Weltkrieges, sondern während fast fünfzig Jahren stets ein anderer Weg eingeschlagen worden. Alle damit befassten Gremien, die Aktenkommission, die Fondskommission sowie eine Arbeitsgruppe des Bunds und der Kantone waren nach dem strikten Grundsatz aufgebaut, dass dort zwar abgebrühte Taktiker, Hinhalter und Beschöniger delegiert von den damaligen Täterorganisationen Einsitz nehmen konnten, aber keine Jenischen. Die Opfer waren von den Gremien ausgeschlossen. Auch hier ist 1997/1998, fünfundzwanzig Jahre nach dem Ende der systematischen Kindswegnahmen an Jenischen, die offizielle historische Aufarbeitung endlich in Gang gekommen. Vorher blieb die vom Bund versprochene historische Aufarbeitung ohne ausländischen und ökonomischen Druck 15 Jahre lang ein leeres Versprechen und Hinhaltetaktik. Auch Vertreter des Kantons Zürich haben das unwürdige Spiel auf dem Buckel der Opfer mitgespielt. Es ist eine Folge des Trauerspiels, dass die Antwort des Regierungsrates in vieler Hinsicht beschämend ignorant ausgefallen ist. Ich bin durch meine Forschungen, die ich stets in Zusammenarbeit mit den Organisationen der Opfer betrieben habe und betreibe, zur Überzeugung gekommen: Es ist aktenmässig nachweisbar und in den Seelen der Betroffenen tief eingebrannt, dass machtverliebte Instanzen wie Vormundschaftsbehörden, Polizei, Justiz und auch medizinische und psychiatrische Stellen sich einig waren im während Jahrzehnten anvisierten Ziel der "Entvölkerung der Landstrasse", das heisst der Vernichtung der Kultur, der Lebensweise und des Zusammenhalts der jenischen Bevölkerungsgruppe in der Schweiz. Es ist leider wahr, dass auch andere Bevölkerungsgruppen wie Geistesschwache, Behinderte, Suchtkranke, ledige Mütter und generell in Armut Geratene oft demselben Instrumentarium unterzogen worden sind: Kindswegnahmen, administrative Einweisung in Anstalten vom Zuchthaus bis zur Psychiatrischen Klinik, Elektroschocks und Zwangssterilisierung. Zu all den Gruppen gibt es eine lange Tradition von scheinwissenschaftlichen Abhandlungen, womit die Erblichkeit von Geisteskrankheit, Behinderung oder sogenannter Asozialität sowie die Berechtigung der erwähnten zerstörerischen Zwangsmassnahmen hätten nachgewiesen werden sollen. Diese Forschungen sind - selbstverständlich auch damals ohne Mitgestaltung durch die Opfer, sondern diese vielmehr beleidigend und entwürdigend - jahrzehntelang an Universitäten, Kliniken und Schulen für soziale Arbeit durchgeführt und dabei bestens finanziert worden. Die darin führende Julius-Klaus-Stiftung hatte jahrzehntelang einen Zürcher Regierungsrat als Galionsfigur. Der in der Interpellationsantwort genannte Dr. Plattner, seinerzeit in der Klinik Rheinau tätig, ist nur einer von vielen. Ein Leithammel dieser Art Forschung, Auguste Forel, prangte auf unserer Tausendernote, jetzt nachgefolgt vom Antisemiten Burckhardt. Es gibt - am besten in Zusammenarbeit mit den Organisationen der Opfer - noch viel nachzuforschen, aufzuarbeiten und abzustellen. Denn etliche der Ausgrenzungs- und Machtmechanismen, welche zu solch demütigenden Eingriffen in die Rechte und die körperliche Integrität dieser Menschen geführt haben, sind nach wie vor am Wirken. Die Verfolgungsmassnahmen gegenüber den Jenischen waren nicht nur zerstörerisch und brutal, sondern zudem noch völkerrechtswidrig, weil sie bewusst und gezielt gegen die Gesamtheit einer ethnischen Gruppe gerichtet waren. Wer immer jenischer Abstammung war, ganz egal ob sesshaft oder nicht, ob arm oder reich, ob kinderreich oder nicht, ob verheiratet oder nicht, ob gesund oder krank, er figurierte auf den genealogischen Listen, die als erster Dr. Josef Jörger von der Klinik Waldhaus in Graubünden erstellte und die Dr. Siegfried von der Pro Juventute später vervollständigte. Die Gesamtheit der auf diesen Listen Proskribierten wurde ins Visier genommen. Genau diese genealogischen Listen führen zur Figur des Dr. Dr. Robert Ritter. Es ist blamabel, billig und peinlich, wenn es in der regierungsrätlichen Antwort heisst: "Ein Dr. Robert Ritter arbeitete als Assistenzarzt am Burghölzli". Die angefragten Stellen des Burghölzli, welche nach eigenen Ausführungen damit beschäftigt sind, ihre Geschichte in eigener Regie aufzuarbeiten, sollen doch bitte Geschichtsforschung nicht mit Vogel-Strauss-Optik verwechseln. In der Zentralbibliothek Zürich ist das Standardwerk zu Robert Ritter, verfasst von Professor Hohmann, auszuleihen. Dort ist nicht nur nachzulesen, wie direkt aufgrund der genealogischen Forschungen Ritters und seiner Mitarbeiter weit über zwanzigtausend Roma, Sinti und Jenische in die Vernichtungslager transportiert wurden. Dort würden die Geschichtsforscher aus dem Burghölzli, falls sie sie finden wollen, die genauen Daten der Einreise eben dieses Dr. Dr. Robert Ritter samt Gattin und Kind nach Zürich finden. Herr und Frau Ritter waren an der Kinderabteilung des Burghölzli tätig. Ebendort wurden jenische Kinder für erste Abklärungen nach der gewaltsamen Trennung von ihren Eltern beobachtet und untersucht. Dort hat Robert Ritter, der vorher keine rassenbiologischen Forschungen betrieb, die Bekanntschaft mit der Theorie und Praxis der jenischen Verfolgung gemacht. Diesen Gedanken hat er später, gefördert von den Nazi-Institutionen, ausgebaut zur systematischen, scheinwissenschaftlich abgesicherten, bürokratischen, hochtechnisierten Menschenvernichtung gemäss genauen Selektionskriterien. Es ist nicht so, dass sich dann die leitenden Figuren des Burghölzli von den nazistischen Theoretikern und Praktikern der Euthanasie und der rassistischen Ausrottung distanziert hätten. Im Gegenteil, Hans Maier, Eugen und Manfred Bleuler, die Burghölzli-Leitfiguren dieser Zeit, pflegten enge Zusammenarbeit mit Nazigrössen wie Luxenburger oder Rüdin und bauten deren Argumente in ihre Publikationen ein. Aufgrund der Peinlichkeit und Unsensibilität dieses Abschnitts der Interpellationsantwort möchte ich den Regierungsrat in corpore, sowie Verena Diener und ihren Stellvertreter persönlich, dringend auffordern, die anstehende und nötige Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels des Zürcher Gesundheitswesens doch bitte sehr nicht einfach in den Händen der Nachfolger der Täter zu belassen. Das kann nicht gut herauskommen. So kann nicht reiner Tisch gemacht werden. Ich bitte Sie vielmehr, beauftragen Sie damit aussenstehende, unabhängige, kritische Forschende. Verlassen Sie verkrampfte Verteidigungsstrategien, die nichts bringen. Suchen Sie die Zusammenarbeit mit den Organisationen der Opfer. Nur dann kann eine heilsame und kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Fehlern der Institutionen einsetzen. Das wäre dringend notwendige Vergangenheitsaufarbeitung. Anjuska Weil-Goldstein (FraP!, Zürich): Ich stelle Antrag auf Diskussion. Abstimmung: Der Kantonsrat beschliesst mit 51 : 42 Stimmen, auf die Diskussion zu verzichten. Der Interpellant hat seine Erklärung abgegeben. Das Geschäft ist erledigt. Persönliche Erklärung: Anjuska Weil-Goldstein (FraP!, Zürich): Ich möchte festhalten, wie diese Diskussion unter den Teppich gekehrt wird, wie wir in diesem Ratssaal heute umgehen mit einer Minderheit, die keine Lobby hat und wie es mit dem Unrechtsbewusstsein gegenüber dieser Minderheit steht. Ich denke, das ist äusserst bedenklich. (...) Kommentar: |
FDP: Freisinnig-demokratische Partei; SP: Sozialdemokratische Partei; FRAP!: Frauen macht Politik! Nachdem der Kantonsrat mit Ausnahme von Anjuschka Weil-Goldstein die Ausführungen des Interpellanten (die Interpellantin war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr Kantonsrätin) mit Stillschweigen überging, debattierte er zahlreiche weitere Vorstösse. Das gesamte Protokoll der Sitzung liegt als gedrucktes Protokoll im Zürcher Rathaus sowie in etlichen Archiven und Bibliotheken vor. |
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