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Dokument Nr. 39: Die Geschichte der fahrenden Familie Minster in der Schweiz

Marta und Michael (genannt Tschawo) Minster an der Fekkerchilbi Brienz, 2. Oktober 2010

Tschawo Minster an der Fekkerchilbi 2004 in Gersau


Die Geschichte der fahrenden Familie Minster in der Schweiz

 

Auszug aus Band 23 der Veröffentlichungen der unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg („Bergier-Kommission“):

Thomas Huonker / Regula Ludi: Roma, Sinti, Jenische. Die schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus. Zürich 2001

 

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4.2.2 Die Wege der Familie M. in die Schweiz: Eine Fallgeschichte

Die Geschichte der Familie M. – eine der drei Sinti-Familien, die in den frühen 1930er Jahren nach den Verhandlungen mit Italien von der Schweiz übernommen und in den folgenden Jahren teilweise geduldet wurde – ist paradigmatisch für den Umgang kommunaler und kantonaler Behörden sowie zuständiger Stellen der Bundesverwaltung mit ausländischen bzw. staatenlosen Fahrenden. Die Rekonstruktion der Wege der Familie M. basiert zur Hauptsache auf amtlichen Quellen.248 Die Akten dokumentieren folglich vor allem die Sicht der Behörden, während von den betroffenen Sinti keine eigentlichen Selbstzeugnisse vorliegen. Denn das Familienoberhaupt Carlo M. konnte selbst nicht schreiben, fand aber für den Schriftverkehr mit den Ämtern immer wieder Schreibhilfen, die gemäss seinen Anweisungen Briefe verfassten.249 Zahlreiche Hinweise ergab auch ein Gespräch mit den jüngeren Familienmitgliedern Tschawo und Martha M.250

Carlo M. wurde 1892 in Chur geboren, lebte aber schon vor dem Ersten Weltkrieg in Italien und reiste mit seiner Familie im Wohnwagen. Wie ein Bericht der Walliser Kantonspolizei aus dem Jahr 1930 festhält, verdiente er «den Lebensunterhalt [...], wie es allgemeiner Brauch ist, bei umherziehenden Völker [sic], durch Aufführen von Spielen, Karrusel, Schiessbuden etc. bei Volksfesten etc. Es sind dies Naturvölker, die dahinleben, ohne auf Sitten u. Gebräuche u. Ordnung, Gesetzesbestimmungen Rücksicht zu nehmen».251

Um die Mitte der 1920er Jahre wurde die Familie von der italienischen Polizei aufgefordert, ihre Habe zu verkaufen, und in der Folge mehrmals ausgewiesen. Verschiedene Versuche der faschistischen Behörden, die Gruppe loszuwerden, scheiterten jedoch an der Abwehr der Nachbarstaaten. Im September 1929 im Tessin aufgegriffen, gelangte die Familie nach

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Lugano, wurde dort inhaftiert und erkennungsdienstlich erfasst. Zu diesem Zeitpunkt bestand die Gruppe aus 9 Personen: dem Vater Carlo und dessen Mutter, sowie sieben Kindern. Der älteste Sohn war knapp 18 Jahre, das Jüngste fünf oder sechs Jahre alt. Die Mutter der Kinder, Margaritha L., war einige Jahre zuvor gestorben.252

Den Winter 1929/1930 verbrachte die Familie unter misslichen Bedingungen im Hof des Polizeigebäudes von Locarno, da die Suche nach einer würdigen Unterkunft am Widerstand von Gemeindebehörden gescheitert war. Im November 1929 starb der sechsjährige Knabe Carlo an den Folgen eines Unfalls.253 Im April 1930 reiste die Familie wieder nach Italien zurück. Bereits in Domodossola wurde sie erneut aufgegriffen, inhaftiert und wiederum über die Grenze in die Schweiz geschoben: «Sie wurden hierauf in die Berge geführt gegen den Simplon um diese armen Leute so bei Nacht und Nebel über die Grenze zu schieben in die Schweiz. [...] Die Leute wurden also von den italienischen Grenzwächtern bis auf die Passhöhe geschoben oder vielmehr getrieben u. im Schnee mussten diese Heimatlosen ohne dass man ihnen nur etwas zum Essen verabreichte, hungernd verbleiben, wie angegeben wurde volle 4 Tage lang.– Die Schweizer Grenzwächter wollten sich ihrer wie begreiflich anfangs auch nicht annehmen aber die ital. Grenzw. stunden mit erhobenen Waffen da, falls ein Zurückkehren, werde man schiessen. Es wäre dies natürlich bald zu ernsthaften Tätlichkeiten gekommen, hätte das Erbarmen mit diesen armen Leuten, auf der schweizer Seite nicht gesiegt u. so nahm man die Familie auf.– Die vorbezeichnete Zigaunerfamilie, befindet sich nun z.Zeit im Untersuchungsgefängnis in Brig., u. wartet der nähern Bestimmungen.»254

Der Bericht zeugt von einer eigentümlichen Mischung von Mitleid – das vor allem durch die Brutalität der italienischen Beamten erregt zu sein scheint – und Verachtung, rekurriert doch die Verballhornung «Zigaunerfamilie» auf tradierte antiziganistische Stereotype, wie sie in der oft kolportierten, falschen etymologischen Herleitung der Bezeichnung Zigeuner von «Zieh Gauner», umherziehenden Gaunern, zum Ausdruck kommen.255 Auch widerspiegelt der Bericht die widersprüchliche Haltung der Behörden den Opfern der Vertreibungspolitik gegenüber. Beamte, die direkt mit den Betroffenen konfrontiert waren, zeigten oft Mitgefühl und Verständnis. Sie gerieten nicht selten in ein moralisches Dilemma, wenn sie Weisungen der Bundesbehörden vollziehen mussten, die gewöhnlich auf Prinzipien beharrten und die Aufnahme von Menschen, die aus einem Nachbarstaat abgeschoben worden waren, vermeiden wollten, um keine Präjudizien zu schaffen.256

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So musste die Familie M. gegen Ende April 1930 wiederum den Weg nach Italien antreten. Sie hatte in der Zwischenzeit Unterschlupf in einer Walliser Alphütte gefunden und weigerte sich kategorisch, diese zu verlassen. Es benötigte ein Aufgebot von drei Grenzpolizisten, um die acht Personen in einem dreistündigen Fussmarsch bei Regen über schneebedeckte Gebirgspfade zur Rückkehr nach Italien zu zwingen. An der Grenze entstand eine bedrohliche Situation: Die acht Mitglieder der Familie «arrivèrent à la frontière qui était gardée par des fascistes au nombre de 25 à 30 [...] ayant tout le matériel de campement nécessaire pour stationner sur les lieux. Ils refusèrent de laisser pénétrer les tziganes sur le sol italien et menacèrent de les abattre s’ils avançaient un pas.»257

Die Gruppe war gezwungen, die Nacht auf Grenzhöhe unter freiem Himmel zu verbringen.

Dieser erneute Versuch, die Familie M. aus der Schweiz abzuschieben, provozierte Proteste in der linken Presse sowie seitens der Bevölkerung.258 Vertreterinnen der Opera Cattolica per la protezione della Giovane setzten sich im Frühling 1930 bei Bundesrat Motta für das Verbleiben der Familie M. in der Schweiz ein.259

In der Zwischenzeit hatten diplomatische Verhandlungen zwischen der Schweiz und Italien Ergebnisse gezeitigt. Die Bundesbehörden erklärten sich bereit, die Gruppe aufzunehmen, wiewohl Rothmund weiterhin auf der Ausschaffung beharrte.260 Die Familie M. wurde nun im Wallis toleriert, war allerdings mangels gültiger Ausweispapiere in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Beim Versuch, in Frankreich Verwandte zu besuchen, wurde sie von der französischen Grenzpolizei zurückgewiesen, da sie lediglich im Besitz schweizerischer Ausländerausweise war.261 Der Versuch des in der Schweiz geborenen Carlo M., mit Berufung auf das Heimatlosengesetz von 1850 die Schweizer Staatsbürgerschaft zu erwerben, scheiterte 1935 an der Weigerung der Polizeiabteilung, das Gesetz auf diesen Fall für anwendbar zu erklären.262

Die Familie hielt sich in den 1930er Jahren in verschiedenen Kantonen auf, unter anderem im Tessin, in Bern, Baselland und Luzern. Sie ernährte sich von der Musik und vom

Flickhandwerk. Das Fehlen gültiger Papiere erschwerte Carlo M. den Erwerb des Lebensunterhalts, da verschiedene Kantone gegen den Aufenthalt der Familie opponierten

oder die notwendigen Gewerbebewilligungen verweigerten.263 Dass verbreitete Vorurteile und

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das «Misstrauen gegenüber dem fahrenden Volk» seitens der Bevölkerung den Aufenthalt der Familie in der Schweiz zusätzlich erschwerten, anerkannten selbst die Bundesbehörden.264 Die Situation wurde für Carlo M. und seine Kinder besonders prekär, als die Polizeiabteilung und die Luzerner Fremdenpolizei die Auflösung der Familie in Betracht zogen.265 Die Familie befand sich im Winter 1936/37 in einer Situation, die keine Aussicht auf Bleibe und Auskommen bot, zumal sie auch im Verdacht stand, sie hätte sich «durch Zuzug Dritter zu einer eigentlichen Zigeunerbande entwickelt».266 Tatsächlich hatte die Familie Zuwachs erhalten, da zwei der Kinder von Carlo M. mittlerweile Beziehungen eingegangen waren – die Tochter Marie mit Jacques L. und der Sohn Johann mit der Französin Loli R.

Während die Polizeiabteilung erneut eine Ausschaffung nach Italien ins Auge fasste, gelangte Carlo M. mehrmals mit Gesuchen um kantonale Aufenthaltsbewilligungen an die

Bundesverwaltung.267 Am 31. März 1937 wurde die Familie aus Luzern ausgewiesen und wenig später im Kanton Aargau zusammen mit weiteren Fahrenden, so der dreiköpfigen Familie W., «wegen Landstreicherei, gänzl. Schriftenlosigkeit und Übertretung des Hausiergesetzes etc.» verhaftet.268 Jacques L., der Lebenspartner von Marie M. und Vater von deren Sohn Tschawo, und Loli R., die mittlerweile schwangere Gefährtin von Johann M., wurden umgehend nach Frankreich ausgeschafft.269 Vermutlich wurde auch die bereits vorher des Landes verwiesene Familie W., die sich vergeblich mit einem «Heimatschein von Schwyz» zu legitimieren versucht hatte, umgehend ausgewiesen.270

Das weitere Schicksal der Ausgeschafften ist unklar. Es gibt Hinweise darauf, dass im südfranzösischen Internierungslager Rivesaltes auch schweizerdeutsch sprechende Roma oder Sinti eingesperrt

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waren.271 Ob es sich um Angehörige der 1937 aus der Schweiz ausgewiesenen Gruppe handelte, ist nicht bekannt.

Im Frühling 1938 schob die Polizeiabteilung auch die Familie M. nach Frankreich ab. Carlo M. hatte in die Ausreise eingewilligt, um die Familie mit den bereits nach Frankreich ausgeschafften Angehörigen zu vereinigen. Zudem rangen ihm die Behörden gegen ein Reisegeld das Versprechen ab, nicht mehr in die Schweiz zurückzukehren.272 Auch Anna R., die betagte Mutter von Carlo M., die Anfang 1937 im Frauenheim der Heilsarmee Basel interniert worden war, wurde umgehend nach Frankreich ausgeschafft.273 Hingegen scheiterte die Zusammenführung von Marie M. mit ihrem Gefährten Jacques L., der sich offenbar in der Schweiz hatte verstecken können.274  Die Beziehung der beiden zerbrach in den Wirren von Familientrennung und Ausschaffungen. Marie M. ging mit einem im Wallis lebenden Korber eine neue Verbindung ein. Auch Johann M. und Loli R., die mittlerweile Zwillinge geboren hatte, trennten sich. Über das weitere Schicksal von Loli und ihren Kindern ist nichts bekannt.

Carlo M. dagegen fand mit seiner Familie keine Bleibe in Frankreich und war gezwungen, wieder in die Schweiz zurückzukehren. Er beantragte eine Aufenthaltsbewilligung im Wallis, die ihm nach einigen Komplikationen von der Gemeinde Conthey im Herbst 1939 gewährt wurde.275 Die Familie – die wieder Zuwachs erhalten hatte, seit zwei Söhne Beziehungen zu jenischen Schweizerinnen eingegangen waren – lebe von ihrer Arbeit, konkurriere das einheimische Gewerbe nicht und habe die Steuern und die Rechnungen ihrer Lieferanten stets bezahlt, bestätigte die Gemeinde ein halbes Jahr später.276 Fortan wurde das Bleiberecht der Familie M. von der Gemeinde nicht mehr bestritten. Doch die Akzeptanz, welche die Fahrenden bei den Gemeindebehörden fanden, täuschte, denn als die Familie M. nach einer Reise durchs Goms im Sommer 1940 wieder an ihren Standplatz zurückkehrte, war ihre Baracke abgebrannt.277

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Wenig später zogen die Bundesbehörden erneut die Auflösung der Familie in Betracht: «Wir haben bestimmt ein grosses Interesse, die Familie nicht weiterhin als ‹Bande› im Land herumziehen zu lassen – denn sie wird sich bald durch eine (vermutlich zahlreichere) neue Generation vermehren», schrieb Jezler 1941, und schlug vor, «die Familie jetzt gewaltsam auseinanderzureissen», um die «künftige Zigeunerei zu verhindern». Die Kinder seien bei Bauern oder in Erziehungsanstalten zu versorgen.278 Die Intention, die Familie nach dem Vorbild der Pro Juventute aufzulösen oder in der Strafanstalt Bellechasse zu internieren, wurde nicht verwirklicht.279 Hingegen setzten sich die Bundesbehörden nun dafür ein, Carlo M. und seinen Angehörigen einen gesicherten Aufenthalt zu gewähren, der auch die infolge der Kriegswirtschaft prekär gewordene Versorgungslage der Familie entschärfen würde.280 Denn wegen ihres illegalen Aufenthalts erhielt die Gruppe nirgends Lebensmittelkarten. Die Polizeiabteilung drängte die Walliser Regierung, Carlo M. und seinen Kindern eine Toleranzbewilligung zu erteilen, zumal die Familie sich «in den 13 Jahren, während deren sie sich in der Schweiz aufgehalten hat, unter Berücksichtigung der tatsächlichen Umstände, sehr gut geführt» habe. Folglich bestünden keine «persönlichen Gründe, die gegen eine weitere Duldung geltend gemacht werden können [...] Andererseits dürfte die Aussicht, die Familie M. im Lauf der nächsten Jahre wieder aus der Schweiz entfernen zu können, gleich Null sein.»281

Der Walliser Polizeidirektor willigte schliesslich ein, die Familie zu dulden und analog wie internierte Flüchtlinge der Arbeitspflicht zu unterstellen. Mehrere männliche Familienmitglieder wurden, laut den Erinnerungen von Tschawo M., zum Bau der Sustenstrasse eingezogen.282 Die Regelung des Aufenthalts bewahrte die Familie in der Folge vor weiteren Ausschaffungen. Die Staatenlosigkeit und der dadurch bewirkte Mangel an anerkannten Ausweisen bescherte ihren Mitgliedern auch in der Nachkriegszeit erhebliche Schwierigkeiten bei Grenzübertritten. Johann M. unternahm zu Beginn der 60er Jahre nochmals Anstrengungen, sich im Wallis einbürgern zu lassen. Seinem Bestreben, Schweizer zu werden, war kein Erfolg beschieden, und er starb 1974 als Staatenloser. Tschawo M., der fast während seines ganzen Lebens Aufenthalt in der Schweiz hatte und mit einer Schweizer Jenischen verheiratet ist, erhielt 1993 das Schweizer Bürgerrecht.

Die Fallgeschichte der Familie M. ist durchaus repräsentativ für die Situation der in der Schweiz geduldeten Staaten- und Schriftenlosen.283 Mit analogen Schwierigkeiten wie die

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Familie M. kämpften in den 1930er und 1940er Jahren auch die fahrenden Familien H. und Z.284 Eine grössere, aus Griechenland stammende Gruppe von Roma, die Familie T., liess die Polizeiabteilung 1934 mit erheblichem Aufwand an Kosten aus der Schweiz spedieren.285

Wie die Fallgeschichte der Familie M. weiter zeigt, kann die Duldung einzelner Sinti-Familien nicht unter asylpolitischen Gesichtspunkten interpretiert werden, obwohl die

zunehmend brutalere Verfolgung dieser Bevölkerungsgruppe im faschistischen Italien seit den späten 20er Jahren evident war. Vielmehr ist sie im Kontext der Abschiebung unerwünschter Ausländer, wie sie in den 1930er Jahren von zahlreichen Staaten betrieben wurde, und im Zusammenhang mit den Folgen dieser Politik zu verstehen. Dass die Schweiz drei Sinti-Familien aufnahm, war eine aussenpolitische Konzession an Italien, die zum Zweck hatte, künftige Grenzzwischenfälle mit diplomatischem Nachspiel zu vermeiden und vom Nachbarstaat die Garantie zu erhalten, dass nicht weitere staaten- und schriftenlose Personen nach der Schweiz abgeschoben würden. Folglich rüttelte dieser Entscheid keineswegs an den Prinzipien der schweizerischen «Zigeunerpolitik» – dies verdeutlicht insbesondere der Versuch der Schweizer Behörden, die Familie M. bei sich bietender Gelegenheit nach Frankreich abzuschieben.

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247 Der Schweizer Gesandte in Rom, Georges Wagnière, an Bundesrat Häberlin, 27. Mai 1930, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

248 Das von der Polizeiabteilung angelegte Dossier zur Familie M. beginnt im Herbst 1929 mit einem Aktenstück aus dem «Zigeunerregister» – den Kopien der anthropometrischen Messkarte des Familienoberhaupts Carlo M. samt Fotos und Daktyloskopien. Das Dossier reicht bis ins Jahr 1993, als die letzten Nachfahren von Carlo M. eingebürgert wurden. BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314, Dossier P 36529.

249 Anstelle der Unterschrift von Carlo M. ist auf einem Dokument der polizeiliche Vermerk angefügt: «Ne s’est pas écrire» [sic]. Siehe das Dossier in BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

250 Interview von Thomas Huonker, 5. Februar 1998 (Tonbandaufzeichnung, UEK).

251 Bericht von Riedtmatten, Leiter des Erkennungsdienstes in Brig, 7. Mai 1930, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

252 Bericht von Riedtmatten, 7. Mai 1930, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

253 Der Tod des Kindes ist lediglich in der Spesenabrechnung der Tessiner Behörden vom 17. Dezember 1930 erwähnt, die  «spese straordinarie per funerale, ospedale, trasporto funebre di un bambino decesso causa infortunio» vermerkt. Über den Aufenthalt der Familie im Hof des Polizeigebäudes schrieb der Kommandant Ferrario am 16. Januar 1930: «Questa  famiglia al pretorio non si può continunare a tenerla. Il nostro pretorio non e costruito per il ricovero die questi elementi e d’altra parte no si possono tenere rinchiuse giorno e notte nelle carceri [...] Poiché il pretorio di Locarno si trova in mezzo all’abitato, lo spettacolo che offre questa disgraziata famiglia di zingari nel giardino del pretorio stesso, durante il giorno non può essere tollerato.» BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

254 Bericht von Riedtmatten, 7. Mai 1930, BAR E 4264(-)1988/2, Bd. 314.

255 Zur Etymologie siehe: Wippermann, Zigeuner, 1997, S. 98; zu antiziganistischen Stereotypen auch: Awosusi, Stichwort, 1998; Reemtsma, Sinti, 1996, S. 30ff.

256 So Frölicher in einem Schreiben an die Oberzolldirektion, 10. März, BAR E 6351 (F) Bd. 522; siehe auch: UEK, Flüchtlinge, 1999, S. 139f.

257 Der Postenchef von Gondo an den Sektionschef in Naters, 26. April 1930, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

258 «Popolo e Libertà», 8. Mai 1930; «Le travail», 16. April 1930, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

259 Remonda an Motta, 13. Mai 1930. Motta zeigte kein Verständnis und empfahl Rothmund, die Eingabe abschlägig zu beantworten. Motta an die Polizeiabteilung, 14. Mai 1930, Rothmund an Remonda, 17. Mai 1930, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

260 Rothmund an das Tessiner Polizeidepartement, 19. Februar 1930, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

261 Die Ausweisschriften der Familie waren 1931 in Brig konfisziert worden. Carlo M. richtete am 22. Dezember 1932 ein Gesuch um Rückgabe der Papiere an den Bundespräsidenten, erhielt aber lediglich einen Ausländerausweis zugestellt, da ihm Rothmund den Schweizerpass explizit verweigerte. BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

262 Schreiben der Polizeiabteilung vom 5. Oktober 1935, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

263 «Le Conseil d’Etat s’oppose à l’établissement en Valais de la famille de tziganes M..» Auszug aus dem Protokoll der Staatsratssitzung vom 17. November 1936. Die Luzerner Behörden verweigerten Carlo M. die Ausstellung eines Hausierpatents. In Luzern hielten sich seit Herbst 1935 auch die beiden andern in der Schweiz tolerierten Sinti-Familien Z. und H. auf. Polizeidirektor Heinrich Walther verlangte vom Bund eine anderweitige Unterbringung der «Zigeunerfamilien». Walther an die Polizeiabteilung, 12. November 1935. Der Polizeidirektor des Kantons Tessin, Enrico Celio, lehnte die Duldung der «zingari vagabondi» ebenfalls ab. Der Polizeidirektor des Kantons Tessin an das EJPD, 3. Dezember 1936, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

264 Baumann an den Luzerner Polizeidirektor Walther, 19. Dezember 1936, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

265 Aktennotiz vom 11. August 1936, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

266 Baumann an den Luzerner Polizeidirektor Walther, 19. Dezember 1936, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

267 Jezler an die Polizeidirektion Tessin, 30. März 1937. Die Tessiner Behörden rieten von der Ausschaffung nach Italien ab, da zu befürchten sei, dass die italienischen Grenzwächter von ihren Schusswaffen Gebrauch machen würden: Polizeidirektion Tessin an die Polizeiabteilung, 6. April 1937, M. an die Polizeiabteilung, 4. März 1937, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

268 Ausweisungsverfügung von Polizeidirektor Heinrich Walther an Carlo M., 31. März 1937; das Polizeikommando des Kantons Aargau an das Zentralpolizeibüro, 2. September 1937, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

269 Gegen Loli R. hatte das EJPD wegen Mittellosigkeit und Missachtung von Fremdenpolizeivorschriften am 28. Juli 1937 die Ausweisung verfügt, trotz Johann M.s Zusicherung, für den Unterhalt aufzukommen. BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

270 Polizeikommando des Kanton Aargau an Zentralpolizeibüro, 2. September 1937, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314. Es handelte sich um die vierzigjährige Hedwig W., um den 35jährigen Georges W., der in anderen Quellen als Ehemann von Hedwig W. bezeichnet wird, sowie um die 75jährige Johanna W.. Georges und Hedwig W. waren im Dezember 1935 mit zwei jüngeren Männern gleichen Namens bei Lausanne ausgeschafft worden. Einige Angehörige dieser staatenlosen Musikerfamilie waren im Elsass geboren, andere hatten schweizerische Geburtsorte. (Hinweise: Wegweisungsdatenbank BAR) Eine weitere Frau mit diesem Familiennamen, die ebenfalls in der Schweiz, in «Fehraldorf, Schw.» [Fehraltdorf ZH] geboren war, wurde nach Auschwitz deportiert. (Gedenkbuch, Bd. I, Nr. 10056, S. 674).

271 Bohny-Reiter, Vorhof, 1995, S. 53 und S. 125 erwähnt «meine alte schwyzerdütsch redende Zigeunerin», die offenbar im Dezember 1941 aus dem Internierungslager fliehen konnte, sowie Schweizer- und Elsässerdeutsch sprechende «Zigeunerkinder». Siehe zu Frankreich auch Peschanski, Tsiganes, 1994; zur Situation der Roma in Frankreich auch die Beiträge in Etudes Tsiganes 1995.

272 Notiz von Jezler, 8. Februar 1938, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

273 Das Polizeiinspektorat Basel-Stadt an die Polizeiabteilung, 31. Mai 1938, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314. Aus verschiedenen Briefen geht hervor, dass sich die Leiterin des Heilsarmeeheims, Frau Galbiati, mehrmals für die Anliegen der alten Frau eingesetzt hatte. Die in Zürich geborene Anna R. wurde am 7. Juli 1938 nochmals in Moutier verhaftet und wiederum nach Frankreich abgeschoben. Der diesbezügliche Bericht ist das letzte Dokument, das die Mutter von Carlo M. betrifft. Zeit und Umstände ihres Todes sind nicht bekannt.

274 Obwohl Jacques L. in der Schweiz geboren und aufgewachsen war, teilte Jezler Carlo M. am 6. Oktober 1938 mit, dass die Ausstellung von Ausweispapieren für Jacques L. nicht in Betracht komme, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

275 Die Gemeinde Ardon hatte sich geweigert, die Familie aufzunehmen. Commune d’Ardon an Fremdenpolizei Sion, 10. September 1939; Fremdenpolizei Wallis an Administration communale de Conthey, 20. Oktober 1939, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

276 Commune de Conthey, Attestation, 25. März 1940, der Bericht des Polizeipostens Brig über die Familie M., vom 3. Mai 1941, vermerkt, dass Peter und Antonio M. im Konkubinat mit den Schwyzer Jenischen Margrit H. und Rosa R. lebten. Bericht von Simmen, Polizeiabteilung, zuhanden von Jezler über das Leben der Familie M., 12. September 1942, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

277 Advokat Bürcher an Eidgenössische Fremdenpolizei, 29. September 1941, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

278 Notiz vom 7. Juni 1941, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

279 Zur Internierung von Fahrenden in Strafanstalten und anderen Institutionen, siehe Huonker, Volk, 1990, insb. S. 90–93.

280 Bericht von Simmen, 12. September 1942, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

281 Bericht von Simmen, 12. September 1942, S. 7, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

282 Jezler an den Walliser Polizeidirektor, 24. März 1943, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314; Tonbandprotokoll Thomas Huonker (UEK) vom 5. Februar 1998.

283 Vergleichbar sind die Beispiele anderer in der Schweiz aktenkundig gewordener Staatenloser, so die in UEK, Flüchtlinge, 1999, S. 140f. dargestellte Fallgeschichte von Johann K. oder das Beispiel des Russen Alexander K., der inden späten 1930er Jahren mehrmals wegen Schriftenlosigkeit zwischen der Schweiz und Frankreich hin- und hergeschoben und in beiden Staaten wegen Landstreicherei und ähnlichen Folgedelikten seines ungeregelten Aufenthaltes bestraft wurde. Im Sommer 1938 wurde K. als «unerwünschter Ausländer», dessen Ausweisung nicht durchführbar war, in der Schweiz interniert. Er verbrachte die folgenden zwei Jahre, ohne sich eines strafrechtlichen Deliktes schuldig gemacht zu haben, in der bernischen Strafanstalt Thorberg und versuchte mehrmals, an das Hochkommissariat für Flüchtlinge des Völkerbundes zu gelangen, um einen Nansenpass zu erhalten. Seine Bemühungen waren vergeblich, denn die Briefe wurden von der Direktion der Strafanstalt zurückbehalten. 1941 wurde er nach Frankreich ausgeschafft, dort verhaftet und im Internierungslager Le Vernet eingesperrt. BAR E 4264 (-) 1985/196, Bd. 16.

284 Dazu die Dossiers in BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 317. Die beiden Familien hatten es Robert Jezler von der

Polizeiabteilung zu verdanken, dass sie – trotz des Widerstands von Gemeinden und Kantonen – als Fahrende in der Schweiz bleiben und ihrem angestammten Erwerb als Hausierende und Flickhandwerker nachgehen konnten.

285 Dazu die Akten in BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 255, BAR E 2001 (D) 1, Bd. 95 sowie in StaZH, Z 6.1650.