Dokument Nr. 39: Die Geschichte der fahrenden Familie Minster in der Schweiz
Die Geschichte der
fahrenden Familie Minster in der Schweiz
Auszug aus Band 23 der Veröffentlichungen der unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg („Bergier-Kommission“): Thomas Huonker /
Regula Ludi: Roma, Sinti, Jenische. Die schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus. Zürich
2001 /p.61/ 4.2.2 Die Wege der Familie M. in
die Schweiz: Eine Fallgeschichte Die Geschichte der Familie M. – eine der drei
Sinti-Familien, die in den frühen 1930er Jahren nach den Verhandlungen mit
Italien von der Schweiz übernommen und in den folgenden Jahren teilweise
geduldet wurde – ist paradigmatisch für den Umgang kommunaler und kantonaler
Behörden sowie zuständiger Stellen der Bundesverwaltung mit ausländischen bzw. staatenlosen
Fahrenden. Die Rekonstruktion der Wege der Familie M. basiert zur Hauptsache auf
amtlichen Quellen.248 Die Akten dokumentieren folglich vor allem die Sicht
der Behörden, während von den betroffenen Sinti keine eigentlichen
Selbstzeugnisse vorliegen. Denn das Familienoberhaupt Carlo M. konnte selbst
nicht schreiben, fand aber für den Schriftverkehr mit den Ämtern immer wieder
Schreibhilfen, die gemäss seinen Anweisungen Briefe verfassten.249 Zahlreiche
Hinweise ergab auch ein Gespräch mit den jüngeren Familienmitgliedern Tschawo
und Martha M.250 Carlo M. wurde 1892 in Chur geboren, lebte aber
schon vor dem Ersten Weltkrieg in Italien und reiste mit seiner Familie im
Wohnwagen. Wie ein Bericht der Walliser Kantonspolizei aus dem Jahr 1930
festhält, verdiente er «den Lebensunterhalt [...], wie
es allgemeiner Brauch ist, bei umherziehenden Völker [sic], durch Aufführen von
Spielen, Karrusel, Schiessbuden etc. bei Volksfesten etc. Es sind dies
Naturvölker, die dahinleben, ohne auf Sitten u. Gebräuche u. Ordnung, Gesetzesbestimmungen
Rücksicht zu nehmen».251 Um die Mitte der 1920er Jahre wurde die Familie von
der italienischen Polizei aufgefordert, ihre Habe zu verkaufen, und in der
Folge mehrmals ausgewiesen. Verschiedene Versuche der faschistischen Behörden,
die Gruppe loszuwerden, scheiterten jedoch an der Abwehr der Nachbarstaaten. Im
September 1929 im Tessin aufgegriffen, gelangte die Familie nach /p.62/ Lugano, wurde dort inhaftiert und
erkennungsdienstlich erfasst. Zu diesem Zeitpunkt bestand die Gruppe aus 9 Personen:
dem Vater Carlo und dessen Mutter, sowie sieben Kindern. Der älteste Sohn war
knapp 18 Jahre, das Jüngste fünf oder sechs Jahre alt. Die Mutter der Kinder, Margaritha
L., war einige Jahre zuvor gestorben.252 Den Winter 1929/1930 verbrachte die Familie unter
misslichen Bedingungen im Hof des Polizeigebäudes von Locarno, da die Suche
nach einer würdigen Unterkunft am Widerstand von Gemeindebehörden gescheitert
war. Im November 1929 starb der sechsjährige Knabe Carlo an den Folgen eines
Unfalls.253 Im April 1930 reiste die Familie wieder nach Italien zurück.
Bereits in Domodossola wurde sie erneut aufgegriffen, inhaftiert und wiederum
über die Grenze in die Schweiz geschoben: «Sie
wurden hierauf in die Berge geführt gegen den Simplon um diese armen Leute so
bei Nacht und Nebel über die Grenze zu schieben in die Schweiz. [...] Die Leute
wurden also von den italienischen Grenzwächtern bis auf die Passhöhe geschoben
oder vielmehr getrieben u. im Schnee mussten diese Heimatlosen ohne dass man
ihnen nur etwas zum Essen verabreichte, hungernd verbleiben, wie angegeben
wurde volle 4 Tage lang.– Die Schweizer Grenzwächter wollten sich ihrer wie
begreiflich anfangs auch nicht annehmen aber die ital. Grenzw. stunden mit
erhobenen Waffen da, falls ein Zurückkehren, werde man schiessen. Es wäre dies
natürlich bald zu ernsthaften Tätlichkeiten gekommen, hätte das Erbarmen mit
diesen armen Leuten, auf der schweizer Seite nicht gesiegt u. so nahm man die
Familie auf.– Die vorbezeichnete Zigaunerfamilie, befindet sich nun z.Zeit im Untersuchungsgefängnis
in Brig., u. wartet der nähern Bestimmungen.»254 Der Bericht zeugt von einer eigentümlichen Mischung
von Mitleid – das vor allem durch die Brutalität der italienischen Beamten
erregt zu sein scheint – und Verachtung, rekurriert doch die Verballhornung
«Zigaunerfamilie» auf tradierte antiziganistische Stereotype, wie sie in der
oft kolportierten, falschen etymologischen Herleitung der Bezeichnung Zigeuner
von «Zieh Gauner», umherziehenden Gaunern, zum Ausdruck kommen.255 Auch
widerspiegelt der Bericht die widersprüchliche Haltung der Behörden den Opfern
der Vertreibungspolitik gegenüber. Beamte, die direkt mit den Betroffenen
konfrontiert waren, zeigten oft Mitgefühl und Verständnis. Sie gerieten nicht
selten in ein moralisches Dilemma, wenn sie Weisungen der Bundesbehörden
vollziehen mussten, die gewöhnlich auf Prinzipien beharrten und die Aufnahme
von Menschen, die aus einem Nachbarstaat abgeschoben worden waren, vermeiden
wollten, um keine Präjudizien zu schaffen.256 /p.63/ So musste die Familie M. gegen Ende April 1930
wiederum den Weg nach Italien antreten. Sie hatte in der Zwischenzeit
Unterschlupf in einer Walliser Alphütte gefunden und weigerte sich kategorisch,
diese zu verlassen. Es benötigte ein Aufgebot von drei Grenzpolizisten, um die
acht Personen in einem dreistündigen Fussmarsch bei Regen über schneebedeckte Gebirgspfade
zur Rückkehr nach Italien zu zwingen. An der Grenze
entstand eine bedrohliche Situation: Die acht Mitglieder der Familie «arrivèrent
à la frontière qui était gardée par des fascistes au nombre de 25 à 30 [...]
ayant tout le matériel de campement nécessaire pour stationner sur les lieux.
Ils refusèrent de laisser pénétrer les tziganes sur le sol italien et
menacèrent de les abattre s’ils avançaient un pas.»257 Die Gruppe war gezwungen, die Nacht auf Grenzhöhe
unter freiem Himmel zu verbringen. Dieser erneute Versuch, die Familie M. aus der
Schweiz abzuschieben, provozierte Proteste in der linken Presse sowie seitens
der Bevölkerung.258 Vertreterinnen der Opera Cattolica per la protezione
della Giovane setzten sich im Frühling 1930 bei Bundesrat Motta für das Verbleiben
der Familie M. in der Schweiz ein.259 In der Zwischenzeit hatten diplomatische
Verhandlungen zwischen der Schweiz und Italien Ergebnisse gezeitigt. Die
Bundesbehörden erklärten sich bereit, die Gruppe aufzunehmen, wiewohl Rothmund
weiterhin auf der Ausschaffung beharrte.260 Die Familie M. wurde nun im Wallis toleriert, war
allerdings mangels gültiger Ausweispapiere in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt.
Beim Versuch, in Frankreich Verwandte zu besuchen, wurde sie von der französischen
Grenzpolizei zurückgewiesen, da sie lediglich im Besitz schweizerischer Ausländerausweise
war.261 Der
Versuch des in der Schweiz geborenen Carlo M., mit Berufung auf das
Heimatlosengesetz von 1850 die Schweizer Staatsbürgerschaft zu erwerben,
scheiterte 1935 an der Weigerung der Polizeiabteilung, das Gesetz auf diesen
Fall für anwendbar zu erklären.262 Die Familie hielt sich in den 1930er Jahren in
verschiedenen Kantonen auf, unter anderem im Tessin, in Bern, Baselland und
Luzern. Sie ernährte sich von der Musik und vom Flickhandwerk. Das Fehlen gültiger Papiere erschwerte
Carlo M. den Erwerb des Lebensunterhalts, da verschiedene Kantone gegen den
Aufenthalt der Familie opponierten oder die notwendigen Gewerbebewilligungen
verweigerten.263 Dass verbreitete Vorurteile und /p.64/ das «Misstrauen gegenüber dem fahrenden Volk»
seitens der Bevölkerung den Aufenthalt der Familie in der Schweiz zusätzlich
erschwerten, anerkannten selbst die Bundesbehörden.264 Die Situation wurde für Carlo M.
und seine Kinder besonders prekär, als die Polizeiabteilung und die Luzerner
Fremdenpolizei die Auflösung der Familie in Betracht zogen.265 Die
Familie befand sich im Winter 1936/37 in einer Situation, die keine Aussicht
auf Bleibe und Auskommen bot, zumal sie auch im Verdacht stand, sie hätte sich «durch
Zuzug Dritter zu einer eigentlichen Zigeunerbande entwickelt».266 Tatsächlich
hatte die Familie Zuwachs erhalten, da zwei der Kinder von Carlo M.
mittlerweile Beziehungen eingegangen waren – die Tochter Marie mit Jacques L.
und der Sohn Johann mit der Französin Loli R. Während die Polizeiabteilung erneut eine
Ausschaffung nach Italien ins Auge fasste, gelangte Carlo M. mehrmals mit
Gesuchen um kantonale Aufenthaltsbewilligungen an die Bundesverwaltung.267 Am 31. März 1937 wurde die Familie
aus Luzern ausgewiesen und wenig später im Kanton Aargau zusammen mit weiteren
Fahrenden, so der dreiköpfigen Familie W., «wegen Landstreicherei, gänzl.
Schriftenlosigkeit und Übertretung des Hausiergesetzes etc.» verhaftet.268 Jacques
L., der Lebenspartner von Marie M. und Vater von deren Sohn Tschawo, und Loli
R., die mittlerweile schwangere Gefährtin von Johann M., wurden umgehend nach
Frankreich ausgeschafft.269 Vermutlich wurde auch die bereits vorher des Landes
verwiesene Familie W., die sich vergeblich mit einem «Heimatschein von Schwyz»
zu legitimieren versucht hatte, umgehend ausgewiesen.270 Das weitere Schicksal der Ausgeschafften ist unklar. Es gibt Hinweise darauf, dass im südfranzösischen Internierungslager Rivesaltes auch schweizerdeutsch sprechende Roma oder Sinti eingesperrt /p.65/ waren.271 Ob es sich um Angehörige der 1937 aus der Schweiz
ausgewiesenen Gruppe handelte, ist nicht bekannt. Im Frühling 1938 schob die Polizeiabteilung auch
die Familie M. nach Frankreich ab. Carlo M. hatte in die Ausreise eingewilligt,
um die Familie mit den bereits nach Frankreich ausgeschafften Angehörigen zu
vereinigen. Zudem rangen ihm die Behörden gegen ein Reisegeld das Versprechen
ab, nicht mehr in die Schweiz zurückzukehren.272 Auch Anna R., die betagte Mutter
von Carlo M., die Anfang 1937 im Frauenheim der Heilsarmee Basel interniert
worden war, wurde umgehend nach Frankreich ausgeschafft.273 Hingegen scheiterte die
Zusammenführung von Marie M. mit ihrem Gefährten Jacques L., der sich offenbar
in der Schweiz hatte verstecken können.274 Die
Beziehung der beiden zerbrach in den Wirren von Familientrennung und
Ausschaffungen. Marie M. ging mit einem im Wallis lebenden Korber eine neue
Verbindung ein. Auch Johann M. und Loli R., die mittlerweile Zwillinge geboren hatte,
trennten sich. Über das weitere Schicksal von Loli und ihren Kindern ist nichts
bekannt. Carlo M. dagegen fand mit seiner Familie keine
Bleibe in Frankreich und war gezwungen, wieder in die Schweiz zurückzukehren.
Er beantragte eine Aufenthaltsbewilligung im Wallis, die ihm nach einigen
Komplikationen von der Gemeinde Conthey im Herbst 1939 gewährt wurde.275 Die
Familie – die wieder Zuwachs erhalten hatte, seit zwei Söhne Beziehungen zu jenischen
Schweizerinnen eingegangen waren – lebe von ihrer Arbeit, konkurriere das einheimische
Gewerbe nicht und habe die Steuern und die Rechnungen ihrer Lieferanten stets bezahlt,
bestätigte die Gemeinde ein halbes Jahr später.276 Fortan wurde das Bleiberecht der Familie
M. von der Gemeinde nicht mehr bestritten. Doch die Akzeptanz, welche die Fahrenden
bei den Gemeindebehörden fanden, täuschte, denn als die Familie M. nach einer Reise
durchs Goms im Sommer 1940 wieder an ihren Standplatz zurückkehrte, war ihre Baracke
abgebrannt.277 /p.66/ Wenig später zogen die Bundesbehörden erneut die
Auflösung der Familie in Betracht: «Wir
haben bestimmt ein grosses Interesse, die Familie nicht weiterhin als ‹Bande›
im Land herumziehen zu lassen – denn sie wird sich bald durch eine (vermutlich
zahlreichere) neue Generation vermehren», schrieb Jezler 1941, und schlug
vor, «die Familie jetzt gewaltsam auseinanderzureissen», um die
«künftige Zigeunerei zu verhindern». Die Kinder seien bei Bauern oder in Erziehungsanstalten
zu versorgen.278 Die Intention, die Familie nach dem Vorbild der Pro Juventute
aufzulösen oder in der Strafanstalt Bellechasse zu internieren, wurde nicht verwirklicht.279 Hingegen
setzten sich die Bundesbehörden nun dafür ein, Carlo M. und seinen Angehörigen
einen gesicherten Aufenthalt zu gewähren, der auch die infolge der Kriegswirtschaft
prekär gewordene Versorgungslage der Familie entschärfen würde.280 Denn wegen
ihres illegalen Aufenthalts erhielt die Gruppe nirgends Lebensmittelkarten. Die
Polizeiabteilung drängte die Walliser Regierung, Carlo M. und seinen Kindern
eine Toleranzbewilligung zu erteilen, zumal die Familie sich «in den 13
Jahren, während deren sie sich in der Schweiz aufgehalten hat, unter
Berücksichtigung der tatsächlichen Umstände, sehr gut geführt» habe.
Folglich bestünden keine «persönlichen Gründe, die gegen
eine weitere Duldung geltend gemacht werden können [...] Andererseits dürfte
die Aussicht, die Familie M. im Lauf der nächsten Jahre wieder aus der Schweiz entfernen
zu können, gleich Null sein.»281 Der Walliser Polizeidirektor willigte schliesslich
ein, die Familie zu dulden und analog wie internierte Flüchtlinge der
Arbeitspflicht zu unterstellen. Mehrere männliche Familienmitglieder wurden,
laut den Erinnerungen von Tschawo M., zum Bau der Sustenstrasse eingezogen.282 Die
Regelung des Aufenthalts bewahrte die Familie in der Folge vor weiteren Ausschaffungen.
Die Staatenlosigkeit und der dadurch bewirkte Mangel an anerkannten Ausweisen
bescherte ihren Mitgliedern auch in der Nachkriegszeit erhebliche
Schwierigkeiten bei Grenzübertritten. Johann M. unternahm zu Beginn der 60er
Jahre nochmals Anstrengungen, sich im Wallis einbürgern zu lassen. Seinem
Bestreben, Schweizer zu werden, war kein Erfolg beschieden, und er starb 1974
als Staatenloser. Tschawo M., der fast während seines ganzen Lebens Aufenthalt
in der Schweiz hatte und mit einer Schweizer Jenischen verheiratet ist, erhielt
1993 das Schweizer Bürgerrecht. Die Fallgeschichte der Familie M. ist durchaus
repräsentativ für die Situation der in der Schweiz geduldeten Staaten- und
Schriftenlosen.283 Mit analogen Schwierigkeiten wie die /p.67/ Familie M. kämpften in den 1930er und 1940er Jahren
auch die fahrenden Familien H. und Z.284 Eine grössere, aus Griechenland stammende Gruppe von
Roma, die Familie T., liess die Polizeiabteilung 1934 mit erheblichem Aufwand
an Kosten aus der Schweiz spedieren.285 Wie die Fallgeschichte der Familie M. weiter zeigt,
kann die Duldung einzelner Sinti-Familien nicht unter asylpolitischen
Gesichtspunkten interpretiert werden, obwohl die zunehmend brutalere Verfolgung dieser
Bevölkerungsgruppe im faschistischen Italien seit den späten 20er Jahren
evident war. Vielmehr ist sie im Kontext der Abschiebung unerwünschter Ausländer,
wie sie in den 1930er Jahren von zahlreichen Staaten betrieben wurde, und im Zusammenhang
mit den Folgen dieser Politik zu verstehen. Dass die Schweiz drei Sinti-Familien
aufnahm, war eine aussenpolitische Konzession an Italien, die zum Zweck hatte, künftige
Grenzzwischenfälle mit diplomatischem Nachspiel zu vermeiden und vom Nachbarstaat
die Garantie zu erhalten, dass nicht weitere staaten- und schriftenlose
Personen nach der Schweiz abgeschoben würden. Folglich rüttelte dieser
Entscheid keineswegs an den Prinzipien der schweizerischen «Zigeunerpolitik» –
dies verdeutlicht insbesondere der Versuch der Schweizer Behörden, die Familie M. bei sich
bietender Gelegenheit nach Frankreich abzuschieben. –––––––––––––––––––––––– 247 Der Schweizer Gesandte in Rom, Georges Wagnière, an
Bundesrat Häberlin, 27. Mai 1930, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314. 248 Das von der Polizeiabteilung angelegte Dossier zur
Familie M. beginnt im Herbst 1929 mit einem Aktenstück aus dem
«Zigeunerregister» – den Kopien der anthropometrischen Messkarte des
Familienoberhaupts Carlo M. samt Fotos und Daktyloskopien. Das Dossier reicht
bis ins Jahr 1993, als die letzten Nachfahren von Carlo M. eingebürgert wurden.
BAR E 4264 (-)
1988/2, Bd. 314, Dossier P 36529. 249 Anstelle der Unterschrift von Carlo M. ist auf
einem Dokument der polizeiliche Vermerk angefügt: «Ne s’est pas écrire» [sic].
Siehe das Dossier in BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314. 250 Interview von Thomas Huonker, 5. Februar 1998
(Tonbandaufzeichnung, UEK). 251 Bericht von Riedtmatten, Leiter
des Erkennungsdienstes in Brig, 7. Mai 1930, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314. 252 Bericht von Riedtmatten, 7. Mai 1930, BAR E 4264 (-) 1988/2,
Bd. 314. 253 Der Tod des Kindes ist lediglich in der
Spesenabrechnung der Tessiner Behörden vom 17. Dezember 1930 erwähnt, die «spese straordinarie per funerale, ospedale,
trasporto funebre di un bambino decesso causa infortunio» vermerkt. Über den Aufenthalt der Familie
im Hof des Polizeigebäudes schrieb der Kommandant Ferrario am 16. Januar 1930: «Questa famiglia al pretorio non si può continunare
a tenerla. Il nostro pretorio non e costruito per il ricovero die questi
elementi e d’altra parte no si possono tenere rinchiuse giorno e notte nelle
carceri [...] Poiché il pretorio di Locarno si trova in mezzo all’abitato, lo
spettacolo che offre questa disgraziata famiglia di zingari nel giardino del
pretorio stesso, durante il giorno non può essere tollerato.» BAR E 4264 (-)
1988/2, Bd. 314. 254 Bericht von Riedtmatten, 7. Mai 1930, BAR E 4264(-)1988/2, Bd. 314. 255 Zur Etymologie siehe: Wippermann, Zigeuner, 1997,
S. 98; zu antiziganistischen Stereotypen auch: Awosusi, Stichwort, 1998;
Reemtsma, Sinti, 1996, S. 30ff. 256 So Frölicher in einem Schreiben an die
Oberzolldirektion, 10. März, BAR E 6351 (F) Bd. 522; siehe auch: UEK,
Flüchtlinge, 1999, S. 139f. 257 Der Postenchef von Gondo an den Sektionschef in
Naters, 26. April
1930, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314. 258 «Popolo e Libertà», 8. Mai 1930; «Le travail», 16. April 1930, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314. 259 Remonda an Motta, 13. Mai 1930. Motta zeigte kein Verständnis und empfahl
Rothmund, die Eingabe abschlägig zu beantworten. Motta an die Polizeiabteilung,
14. Mai 1930,
Rothmund an Remonda, 17. Mai 1930, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314. 260 Rothmund an das Tessiner Polizeidepartement, 19.
Februar 1930, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314. 261 Die Ausweisschriften der Familie waren 1931 in Brig
konfisziert worden. Carlo M. richtete am 22. Dezember 1932 ein Gesuch um
Rückgabe der Papiere an den Bundespräsidenten, erhielt aber lediglich einen
Ausländerausweis zugestellt, da ihm Rothmund den Schweizerpass explizit
verweigerte. BAR E 4264
(-) 1988/2, Bd. 314. 262 Schreiben der Polizeiabteilung vom 5. Oktober 1935,
BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314. 263 «Le Conseil d’Etat s’oppose à l’établissement en
Valais de la famille de tziganes M..» Auszug aus dem Protokoll der Staatsratssitzung vom 17.
November 1936. Die Luzerner Behörden verweigerten Carlo M. die Ausstellung
eines Hausierpatents. In Luzern hielten sich seit Herbst 1935 auch die beiden
andern in der Schweiz tolerierten Sinti-Familien Z. und H. auf. Polizeidirektor
Heinrich Walther verlangte vom Bund eine anderweitige Unterbringung der
«Zigeunerfamilien». Walther an die Polizeiabteilung, 12. November 1935. Der
Polizeidirektor des Kantons Tessin, Enrico Celio, lehnte die Duldung der
«zingari vagabondi» ebenfalls ab. Der Polizeidirektor des Kantons Tessin an das
EJPD, 3. Dezember 1936, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314. 264 Baumann an den Luzerner Polizeidirektor Walther,
19. Dezember 1936, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314. 265 Aktennotiz vom 11. August 1936, BAR E 4264 (-)
1988/2, Bd. 314. 266 Baumann an den Luzerner Polizeidirektor Walther,
19. Dezember 1936, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314. 267 Jezler an die Polizeidirektion Tessin, 30. März
1937. Die Tessiner Behörden rieten von der Ausschaffung nach Italien ab, da zu
befürchten sei, dass die italienischen Grenzwächter von ihren Schusswaffen
Gebrauch machen würden: Polizeidirektion Tessin an die Polizeiabteilung, 6.
April 1937, M. an die Polizeiabteilung, 4. März 1937, BAR E 4264 (-) 1988/2,
Bd. 314. 268 Ausweisungsverfügung von Polizeidirektor Heinrich
Walther an Carlo M., 31. März 1937; das Polizeikommando des Kantons Aargau an
das Zentralpolizeibüro, 2. September 1937, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314. 269 Gegen Loli R. hatte das EJPD wegen Mittellosigkeit
und Missachtung von Fremdenpolizeivorschriften am 28. Juli 1937 die Ausweisung
verfügt, trotz Johann M.s Zusicherung, für den Unterhalt aufzukommen. BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314. 270 Polizeikommando des Kanton Aargau an
Zentralpolizeibüro, 2. September 1937, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314. Es handelte sich um die vierzigjährige Hedwig W.,
um den 35jährigen Georges W., der in anderen Quellen als Ehemann von Hedwig W.
bezeichnet wird, sowie um die 75jährige Johanna W.. Georges und Hedwig W. waren
im Dezember 1935 mit zwei jüngeren Männern gleichen Namens bei Lausanne
ausgeschafft worden. Einige Angehörige dieser staatenlosen Musikerfamilie waren
im Elsass geboren, andere hatten schweizerische Geburtsorte. (Hinweise:
Wegweisungsdatenbank BAR) Eine weitere Frau mit diesem Familiennamen, die
ebenfalls in der Schweiz, in «Fehraldorf, Schw.» [Fehraltdorf ZH] geboren war,
wurde nach Auschwitz deportiert. (Gedenkbuch, Bd. I, Nr. 10056, S. 674). 271 Bohny-Reiter, Vorhof, 1995, S. 53 und S. 125
erwähnt «meine alte schwyzerdütsch redende Zigeunerin», die offenbar im
Dezember 1941 aus dem Internierungslager fliehen konnte, sowie Schweizer- und
Elsässerdeutsch sprechende «Zigeunerkinder». Siehe zu Frankreich auch
Peschanski, Tsiganes, 1994; zur Situation der Roma in Frankreich auch die
Beiträge in Etudes Tsiganes 1995. 272 Notiz von Jezler, 8. Februar 1938, BAR E 4264 (-)
1988/2, Bd. 314. 273 Das Polizeiinspektorat Basel-Stadt an die
Polizeiabteilung, 31. Mai 1938,
BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314. Aus verschiedenen Briefen geht hervor, dass sich die Leiterin des
Heilsarmeeheims, Frau Galbiati, mehrmals für die Anliegen der alten Frau
eingesetzt hatte. Die in Zürich geborene Anna R. wurde am 7. Juli 1938 nochmals
in Moutier verhaftet und wiederum nach Frankreich abgeschoben. Der
diesbezügliche Bericht ist das letzte Dokument, das die Mutter von Carlo M.
betrifft. Zeit und Umstände ihres Todes sind nicht bekannt. 274 Obwohl Jacques L. in der Schweiz geboren und
aufgewachsen war, teilte Jezler Carlo M. am 6. Oktober 1938 mit, dass die
Ausstellung von Ausweispapieren für Jacques L. nicht in Betracht komme, BAR E
4264 (-) 1988/2, Bd. 314. 275 Die Gemeinde Ardon hatte sich geweigert, die
Familie aufzunehmen. Commune d’Ardon an Fremdenpolizei Sion, 10. September
1939; Fremdenpolizei Wallis an Administration communale de Conthey, 20. Oktober
1939, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314. 276 Commune de Conthey, Attestation, 25. März 1940, der
Bericht des Polizeipostens Brig über die Familie M., vom 3. Mai 1941, vermerkt,
dass Peter und Antonio M. im Konkubinat mit den Schwyzer Jenischen Margrit H.
und Rosa R. lebten. Bericht von Simmen, Polizeiabteilung, zuhanden von Jezler
über das Leben der Familie M., 12. September 1942, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314. 277 Advokat Bürcher an Eidgenössische
Fremdenpolizei, 29. September
1941, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314. 278 Notiz vom 7. Juni 1941, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd.
314. 279 Zur Internierung von Fahrenden in Strafanstalten
und anderen Institutionen, siehe Huonker, Volk, 1990, insb. S. 90–93. 280 Bericht von Simmen, 12. September 1942, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314. 281 Bericht von Simmen, 12. September 1942, S. 7, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd.
314. 282 Jezler an den Walliser Polizeidirektor, 24. März
1943, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314; Tonbandprotokoll Thomas Huonker (UEK) vom
5. Februar 1998. 283 Vergleichbar sind die Beispiele anderer in der
Schweiz aktenkundig gewordener Staatenloser, so die in UEK, Flüchtlinge, 1999,
S. 140f. dargestellte Fallgeschichte von Johann K. oder das Beispiel des Russen
Alexander K., der inden späten 1930er Jahren mehrmals wegen Schriftenlosigkeit
zwischen der Schweiz und Frankreich hin- und hergeschoben und in beiden Staaten
wegen Landstreicherei und ähnlichen Folgedelikten seines ungeregelten
Aufenthaltes bestraft wurde. Im Sommer 1938 wurde K. als «unerwünschter
Ausländer», dessen Ausweisung nicht durchführbar war, in der Schweiz
interniert. Er verbrachte die folgenden zwei Jahre, ohne sich eines
strafrechtlichen Deliktes schuldig gemacht zu haben, in der bernischen
Strafanstalt Thorberg und versuchte mehrmals, an das Hochkommissariat für
Flüchtlinge des Völkerbundes zu gelangen, um einen Nansenpass zu erhalten.
Seine Bemühungen waren vergeblich, denn die Briefe wurden von der Direktion der
Strafanstalt zurückbehalten. 1941 wurde er nach Frankreich ausgeschafft, dort
verhaftet und im Internierungslager Le Vernet eingesperrt. BAR E 4264 (-) 1985/196, Bd. 16. 284 Dazu die Dossiers in BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd.
317. Die beiden Familien hatten es Robert Jezler von der Polizeiabteilung zu verdanken,
dass sie – trotz des Widerstands von Gemeinden und Kantonen – als Fahrende in
der Schweiz bleiben und ihrem angestammten Erwerb als Hausierende und
Flickhandwerker nachgehen konnten. 285 Dazu die Akten in BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 255,
BAR E 2001 (D) 1, Bd. 95 sowie in StaZH, Z 6.1650. |