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zu den Themen Minderheiten, Roma, Sinti, Jenische, Indigene, Menschenrechte, Menschenrechtsverletzungen, Kindswegnahmen, Anstalten, Geschichte, Pro Juventute, "Eugenik", "Rassenhygiene", Zwangssterilisation, Kastration, Psychiatrie, Rassismus, Flüchtlingspolitik, Völkermord, Holocaust
Dokument Nr. 36:
Artikel und weiterführende Informationen auf www.swissinfo.ch vom 16. Oktober 2009 betreffend stereotype Etikettierungen von Minderheiten durch Mehrheiten und die Folgen des Verbreitens und Wiederholens solcher Vorurteile


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Falsche Vorurteile gegen "Zigeuner"

Bildlegende: Leben unter einer Brücke: Das Leben ist für viele

 über Europa verstreute Roma kein Zuckerschlecken. 

(Foto Chiara Tiraboschi)

Immer wieder geraten Roma negativ in die Schlagzeilen. Die "Zigeuner", die nichts mit den Schweizer Jenischen oder Fahrenden gemeinsam haben, werden meist als Bettler, Diebe, Zuhälter, arbeitsscheues Gesindel beschimpft. Dagegen wehren sie sich.

"Wenn alle Roma so leben würden, wie sich die Leute das vorstellen, hätte Europa ein gröberes Problem, denn auf diesem Kontinent leben 12 Millionen Roma", sagt Stéphane Laederich von der Stiftung Rroma gegenüber swissinfo.ch.

"Natürlich gibt es kriminelle Roma", sagt Laederich. "Aber Kriminelle gibt es in jeder Gesellschaft." Es gebe auch Roma-Frauen, die sich prostituieren oder dazu gezwungen würden. Aber auch viele osteuropäische Frauen und Schweizerinnen prostituierten sich in der Schweiz.

Der Historiker Thomas Huonker, der sich intensiv mit der Geschichte der Roma beschäftigt, fügt hinzu: "Es ist absurd, die Möglichkeit zu erwägen, ein ganzes Volk bestehe aus lauter Kriminellen."

Immer wenn es heisse: Alle Roma, alle Schweizer, alle Amerikaner, alle Russen, alle Deutschen, alle Juden, etc. sei die nachfolgende Behauptung - wie auch immer sie lauten möge - schon falsch, "mit Ausnahme der Feststellung: Alle .... sind Menschen."

Gefährliche Stigmatisierung

Die Stigmatisierung eines gesamten Volkes durch ein paar negative Beispiele sei gefährlich, warnt auch Laederich.

"Das letzte Mal passierte das im 20. Jahrhundert bei den Juden. Und das hatte bekannterweise schwerwiegende Folgen, übrigens auch für die Roma. Zwischen ein und zweieinhalb Millionen sind von den Nazis umgebracht worden."

Man zeigt nicht nur in der Schweiz eine gewisse Hilflosigkeit beim Schutz von Sinti und Roma. Dies zeigen viele negative Beispiele aus Tschechien oder Ungarn, wo zum Teil richtiggehende Treibjagden auf Roma veranstaltet werden, bei denen es auch Todesopfer gibt.

"Dass die bestehenden Gesetze nicht respektiert werden, ist das wesentliche Problem", sagt Laederich. Er macht dafür auch den Nationalismus verantwortlich, der in Tschechien, der Slowakei und Ungarn nach dem Kommunismus zum Vorschein gekommen sei. "Wenn ein Land durch eine Sprache und eine Ethnie bestimmt wird, dann haben Minderheiten eigentlich keinen Platz."

Laederich weilte kürzlich in Ungarn. Am meisten erschreckt hat ihn, dass viele Leute, auch sehr gebildete, oft sagten: "Schade, dass man die Täter erwischt hat, wenn sie noch ein paar mehr umgebracht hätten, wären wir das Problem los." Andere bedauerten, dass Hitler die Arbeit nicht fertig gemacht hätte.

"Das finde ich sehr sehr gefährlich, denn es kann zu grossen Probleme führen, leben doch in Ungarn 800'000 bis 900'000 Roma."

Wohlintegrierte Mehrheit

Wie viele Roma in der Schweiz leben, lässt sich nicht leicht beantworten. Stéphane Laederich: "Es gibt in Westeuropa sehr wenige Statistiken. In der Schweiz leben nach unseren Schätzungen 50'000 bis 60'000 Roma. Gut 98% davon sind wohlintegriert, sie arbeiten, leben ihre Roma-Tradition - aber nur zu Hause."

Die allermeisten von ihnen geben nach Aussen nicht zu erkennen, welcher ethnischen Gruppe sie angehören.

Die Roma-Traditionen sind sehr familienzentriert. Ganz hoch gehalten wird der Respekt vor den Eltern. Die Gemeinschaft versucht, interne Differenzen und Streitereien nicht nach aussen zu tragen. "Wegen eines Streits geht man nicht zur Polizei", erklärt Laederich, "es gibt Schlichtungsmöglichkeiten innerhalb der Gemeinschaft."

Eigene Sprache

Roma sprechen in ihren Kreisen eine eigene Sprache, Romanes. Diese geht auf ihre indische Abstammung zurück. "Es gibt nur sehr wenige Nicht-Roma, die Romanes beherrschen", sagt Laederich. "Mit unserer auf Sanskrit zurückgehenden Sprache können wir in gewissen Gegenden in Indien ohne Probleme einkaufen."

Es gebe aber auch viele Lehnwörter, gerade für moderne Ausdrücke. Als Beispiel nennt er das Wort Fernsehen. "Unsere Sprache ist immer noch sehr einheitlich. Zwar gibt es Dialekte, aber die unterscheiden sich untereinander nicht mehr als die verschiedenen schweizerdeutschen Idiome."

Es geht nicht ohne Veränderungen

Müssten nicht auch die Roma Bereitschaft zur Veränderung anstreben, um vielleicht besser akzeptiert zu werden? Oft wird ihnen vorgeworfen, sie heirateten zu früh, hätten überdurchschnittliche Kinderzahlen, und innerhalb der Familien herrsche Gewalt vor.

"Erfahrungsgemäss ändern sich diese Faktoren in den meisten Gruppen vor allem durch erhöhten Wohlstand. Es gilt somit, die durch Arbeitslosigkeit und soziale Ausgrenzung sowie die aktuelle Finanzkrise noch verschärfte Armut der Roma zu beheben", sagt der Historiker Thomas Huonker.

"Gewalt in Familien kommt leider in allen Schichten und Kulturen vor, meist dient sie der Verteidigung einer überholten männlichen Vormachtstellung. Es wäre absurd, dies als ein Spezialproblem der Roma-Kultur aufzufassen."

Letzte transnationale Minderheit

"Die Roma sind eigentlich die letzte transnationale Minderheit, die es in Europa noch gibt" sagt Laederich.

"Unser Volk hatte nie einen eigenen Staat, es wollte übrigens auch keinen, es hatte nie eine Armee, es hat nie gekämpft, nicht Bomben gelegt, Die Roma sind ein frühes Beispiel für ein vereinigtes Europa. Sie sind Europäer, grenzenlos, denn sie haben die Revolution des Nationalismus im 19. Jahrhundert in Europa nicht mitgemacht."

Etienne Strebel, swissinfo.ch

Weitere Informationen von Swissinfo sowie weiterführende Links zur Thematik  Roma, Sinti, Jenische:


ROMA, RROMA, SINTI

Roma, Rroma [Rom (männlich), Romni (weiblich)] ist der Oberbegriff für ursprünglich aus Indien stammende ethnisch miteinander verwandte Bevölkerungsgruppen, die sich vom 14. Jahrhundert an in mehreren Schüben über Vorderasien nach Nordafrika und Europa verbreiteten.

Mittlerweile leben die Roma als ethnisch-kulturelle Minderheit auf allen Kontinenten. Die grosse Mehrheit lebt in Europa, vor allem in den sudosteuropäischen und einigen mitteleuropäischen Staaten sowie in Spanien und Frankreich. Im deutschsprachigen Raum werden Roma oft als "Sinti und Roma" bezeichnet.

1971 legte der erste Weltkongress der internationalen Bürgerrechtsbewegung der Roma die Bezeichnung "Roma" als Gesamtkategorie für die unterschiedlichen Teilgruppen offiziell fest.

Ihre gemeinsame Sprache heisst Romani/Romanes. Sie ist in eine Vielfalt von Dialekten ausgeformt. Romanes ist verwandt mit dem Sanskrit und weist Gemeinsamkeiten mit zentralindischen und nordwestindischen Sprachen auf.

Der Doppelbegriff "Sinti und Roma" bezeichnet die Angehörigen der Teilgruppe der in Deutschland, den Niederlanden, Frankreich und Norditalien beheimateten Sinti, im französischen Sprachraum Manouches, sowie die im osteuropäischen Raum beheimateten Roma, die im 19. und im 20. Jahrhundert in mehreren Schüben vor allem aus Südosteuropa u. a. nach Mitteleuropa emigrierten.

Die Roma wurden in ihrer rund 700-jährigen Geschichte in Europa seit Beginn des 16. Jh. diskriminiert und verfolgt. Im Nationalsozialismus wurde Hunderttausende Opfer eines Völkermords, ähnlich wie die europäischen Juden.

Auch in der Gegenwart werden Roma verfolgt, in den letzten 20 Jahren in einigen südosteuropäischen Ländern.

Roma in Europa befinden sich heute oft im Visier rechtspopulistischer Politiker.


 

JENISCHE leben ebenfalls in vielen europäischen Ländern,hauptsächlich in Deutschland, Luxemburg, Frankreich, Schweiz, Oesterreich und Italien. Sie sprechen nicht Romanes, sondern Jenisch.

 

FotogalerieFotogalerie auf www.swissinfo.ch:  Die Jenischen


 

LINKS ZUR THEMATIK ROMA, SINTI, JENISCHE


 

 

Kommentar:
Der Artikel läuft Gefahr, die Vorurteile, die er bekämpfen will, durch deren Wiedergabe selbst dann zu bestärken, wenn er kritische Meinungen dazu zitiert. Immer wieder stellen JournalistINNen und ModeratorINNen und auch weniger geschulte Leute die Frage: "Stimmen die Vorurteile über die 'Zigeuner'?" An dieser Stelle sei einmal mehr bemerkt, dass Vorurteile und Pauschalisierungen immer falsch sind und nie stimmen. Es ist dasselbe, wie wenn man fragen würde: "Trifft dieses Fehlurteil zu?" oder "Stimmt dieser Irrtum?" Man stelle sich einen Artikel auf www.swissinfo.ch vor, der den Titel trüge: "Richtige Vorurteile für die Schweizer".
Es braucht genaue Kenntnisse, Offenheit, Humor, Sinn für ungewohnte Blickwinkel sowie Klischees sprengende Formulierungen, um Vorurteile, Pauschalurteile und andere stigmatisierenden Fehlurteile und Etikettierungen zu bekämpfen. Doch es lohnt sich, denn man bekämpft damit jene denkfaule Dumpfheit, die allzuoft der Nährboden von Rassismus, Verhetzung, Verfolgung und Völkermord war und ist.
Leider gilt, was Albert Einstein dazu sagte: "Es ist leichter, ein Atom zu spalten, als ein Vorurteil zu zertrümmern."