Dokument Nr. 25:
Rede des Bundesratspräsidenten Peter Müller, Ministerpräsident des Saarlandes, zum Gedenken zu Ehren der Opfer der Sinti, Roma und Jenischen gehalten in Berlin an der 853. Sitzung des Bundesrates, 19. Dezember 2008
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat am 8. Mai 1985 in seiner Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes formuliert: "Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich [...] zu gedenken, dass es zu einem Teil des eigenen Innern wird." Davon ausgehend gehört es zur Erinnerungskultur des Bundesrates und damit zu den Traditionen dieses Hauses, dass wir jeweils in der letzten Sitzung im Dezember aller Sinti, Roma und Jenischen gedenken, die von den Nationalsozialisten gedemütigt, gequält und ermordet wurden. Am 16. Dezember 1942, fast auf den Tag genau vor 66 Jahren, leitete der Reichsführer SS Heinrich Himmler mit dem sogenannten "Auschwitz-Erlass" den Versuch ein, die deutschen und die europäischen Sinti und Roma vollständig zu vernichten. Die vom nationalsozialistischen Staat organisierte Mordpolitik gipfelte in der Deportation von etwa 23 000 Sinti und Roma aus nahezu allen europäischen Staaten nach Auschwitz. Fast alle verschleppten Männer, Frauen und Kinder fielen in Auschwitz den unmenschlichen Lebensbedingungen zum Opfer oder mussten in den Gaskammern einen qualvollen Tod erleiden. Heute weilen unter uns einige der Nachkommen derer, die dem Holocaust an Sinti, Roma und Jenischen zum Opfer fielen, und einige, die den versuchten Völkermord überlebt haben. Ich begrüße sie herzlich auf unserer Ehrentribüne ebenso wie die Vertreter des Zentralrates der Sinti und Roma, der Sinti Allianz Deutschland sowie des Vereins der Jenischen. Ihnen allen sage ich: Wir verneigen uns vor allen Sinti, Roma und Jenischen, die zu Opfern des nationalsozialistischen Völkermordes geworden sind. Wir stehen an der Seite derjenigen, die den Holocaust überlebt haben. Wir fühlen mit allen, deren Familienmitglieder oder Freunde von der nationalsozialistischen Diktatur verfolgt und ermordet worden sind. Die Erinnerung an die nationalsozialistische Terrorherrschaft wird durch das Wissen um die Einzigartigkeit des Holocaust bestimmt. Der Völkermord an den europäischen Juden, Sinti, Roma und Jenischen war ein Menschheitsverbrechen bisher nicht gekannten, beispiellosen Ausmaßes. Eines Geschehens so ehrlich zu gedenken, dass es - im Sinne von Richard von Weizsäcker - zu einem Teil des eigenen Innern wird, verlangt nach Aufarbeitung der Geschichte ebenso wie nach der Erinnerung an die Opfer. Die Aufarbeitung des Völkermordes an den Sinti und Roma und die Analyse seiner Ursachen sind in Deutschland nur sehr langsam in Gang gekommen. Lange Jahre wurden der Völkermord geleugnet und den Überlebenden des Holocaust die staatliche Anerkennung der an ihnen verübten Verbrechen verwehrt. Deshalb müssen wir heute umso nachdrücklicher bekennen, dass die Sinti und Roma wie kein anderes Volk außer den Juden im Nationalsozialismus der anhaltenden Benachteiligung, Verfolgung und planmäßigen Vernichtung ausgesetzt waren. Die Unterdrückung und Verfolgung der Sinti und Roma hat nicht erst mit der nationalsozialistischen Machtergreifung begonnen. Aber das Jahr 1933 bedeutete für die deutschen Sinti und Roma ebenso wie für die deutschen Juden eine radikale Zäsur. Sie wurden zu "Fremdrassigen" erklärt, die eine Gefahr für das "deutsche Blut" darstellten und daher aus der "NS-Volksgemeinschaft" auszuschließen seien. Mit den Nürnberger Gesetzen wurden Sinti und Roma zu Bürgern minderen Rechts. In vielen deutschen Städten wurden Zwangslager eingerichtet, Sinti und Roma systematisch kriminalisiert und aus nahezu allen Bereichen des öffentlichen Lebens ausgegrenzt. Im Rahmen der Massenverhaftungen nach 1938 wurden zahllose Sinti und Roma, darunter Frauen und Kinder, in die neu errichteten Konzentrationslager verschleppt, wo sie als Zwangsarbeiter missbraucht und dem Terror der Wachmannschaften hilflos ausgeliefert waren. Mit dem Erlass vom 16. Dezember 1942 wurde dann das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau zum Zentrum des nationalsozialistischen Völkermordes an den Sinti und Roma. Unsere Aufgabe ist es, der vielen Tausend Opfer dieses Völkermordes zu gedenken und sie zu würdigen. Wir können uns heute die Brutalität der Täter und die Leiden der Opfer kaum vorstellen. Wir können nur ahnen, was es für die Überlebenden bedeutet, mit der Erfahrung furchtbaren Terrors und unermesslichen Leids leben zu müssen. Was wir aber tun können und tun müssen, ist, die Erinnerung an das erlittene Unrecht wachzuhalten. Ich begrüße es daher sehr, dass endlich eine Einigung gefunden wurde für die Errichtung eines Mahnmals für die Opfer des nationalsozialistischen Völkermordes an den Sinti und Roma. Heute Nachmittag wird der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Bernd Neumann, gemeinsam mit dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit, in einem Gedenkakt im Tiergarten an die Verfolgung und Ermordung der Sinti und Roma erinnern. Ähnlich wie das Denkmal für die ermordeten Juden wird das Mahnmal in unmittelbarer Nähe des Reichstages und des Brandenburger Tors errichtet. Bundestag und Bundesrat haben sich damit den Ort des Erinnerns nah an ihre Wirkungsstätten geholt. Dies ist eine Verneigung vor den Opfern des Holocaust und ein klares Bekenntnis zu unserer historischen Verantwortung. Erinnerung so zu gestalten, dass das Geschehene zu einem Teil des eigenen Innern wird, bedeutet auch, eine Sprache gegen das Vergessen zu finden. Ein Künstler, dem das in beeindruckender Weise gelungen ist, war Otto Pankok. In seinem Werk spiegelt sich der nationalsozialistische Völkermord wider. Seine Porträts von Sinti und Roma, die zurzeit in der Saarländischen Galerie am Festungsgraben gezeigt werden, sind anschauliche Dokumente des Leids und des Terrors, dem die Verfolgten in der Zeit des Nationalsozialismus ausgesetzt waren. Die Porträts verdeutlichen besser und eindringlicher als jede wissenschaftliche Abhandlung, warum wir die Erinnerung an diese furchtbaren Zeiten wachhalten müssen. Wir haben den fortwährenden Auftrag, in angemessenen Formen das Erinnern zu ermöglichen und dazu anzuregen. Wir haben den Auftrag, die Lehren aus unserer Geschichte zu ziehen und sie den nachwachsenden Generationen zu vermitteln. Wir haben den Auftrag, nie wieder ein Klima der Diskriminierung und Verfolgung von Sinti und Roma entstehen zu lassen. Gerade jungen Menschen müssen wir daher die Werte einer toleranten, freiheitlich-demokratischen Ordnung nahebringen. Die Begeisterung und das Engagement für die Demokratie und die ihr zugrunde liegenden Werte müssen immer wieder neu geweckt werden. Gerade die verfolgten Sinti, Roma und Jenischen haben die bittere Erfahrung machen müssen, wie dünn das Eis der sich demokratisch verstehenden Weimarer Republik gewesen ist, wie schnell die Nationalsozialisten zahllose Bürger- und Menschenrechte einkassierten, Andersdenkende in Gefängnisse und Konzentrationslager steckten, Euthanasieprogramme entwickelten und den millionenfachen fabrikmäßig organisierten Mord kaltblütig vollstreckten. In den vergangenen 60 Jahren hat die Bundesrepublik Deutschland die ihr gebotene Chance genutzt, sich als Staat unter demokratischen Vorzeichen zu entwickeln. Diese Errungenschaft gilt es täglich zu verteidigen und fortzuentwickeln; denn die Stabilität unserer demokratischen Ordnung ist die zentrale Voraussetzung dafür, dass sich Rassismus, Antisemitismus und Totalitarismus in unserem Land nicht wieder ausbreiten können. Gerade in diesen Tagen sage ich und sagen wir: Überall, wo der Rechtsradikalismus sein hässliches Haupt erhebt, ist die Solidarität der Demokraten gefragt. "Nie wieder!" und "Wehret den Anfängen!" - auf dieser Grundlage wollen wir gemeinsam allen Formen des Radikalismus, des Totalitarismus und des völkerverachtenden Denkens eine klare Absage erteilen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bitte Sie nun, sich von Ihren Plätzen zu erheben. Wir gedenken der Opfer nationalsozialistischer Gewalt unter den Sinti und Roma, den Angehörigen der eigenständigen Gruppe der Jenischen und anderen Fahrenden. Ich danke Ihnen.
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Kommentar: Nachdem schon am 20. Dezember 2007 der damalige Präsident des deutschen Bundesrats Ole von Beust (CDU), Bürgermeister von Hamburg, zum Gedenken an die Verfolgung der Roma, Sinti und Jenischen den Stellenwert dieser Thematik in Deutschland bezeugte (vgl. Dokument Nr. 21), tat dies in Verbindung mit der Grundsteinlegung des Mahnmals von Dani Karavan in Berlin zum Gedenken an diese Opfergruppen am 19. Dezember 2008 auch Bundesratspräsident Peter Müller (CDU), Ministerpräsident des Saarlands. Angesichts der lange verzögerten Anerkennung der Opfergruppe der Jenischen ist es wichtig, dass, wie schon 2007, auch sie erwähnt wurden, und dass zur Gedenkfeier und zur Grundsteinlegung des Mahnmals auch Vertreter der Jenischen eingeladen wurden. Die Aufarbeitung der Verfolgungsgeschichte der Jenischen unter dem Nationalsozialismus, ebenso wie der Geschichte ihrer vorherigen und seitherigen Ausgrenzung, steht erst in relativ bescheidenen Anfängen und sollte jetzt, wie die Forschung betreffend andere Opfergruppen des Naziterrors (Juden, Sinti und Roma, Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter, Homosexuelle, Angehörige des politischen und religiösen Widerstands,usw.), auch mit Hilfe staatlicher und offizieller wissenschaftlicher Fördermittel betrieben werden. Auch die Anerkennung der Jenischen als gleichberechtigte Volksgruppe mit eigener Sprache und Tradition steht in Deutschland nun an, wie es entsprechende internationale Übereinkommen des Minderheitenschutzes vorsehen. |
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