Dokument Nr. 24:
Protokoll Robert
Huber
Robert Huber, geboren 1933, wurde im Alter von 3 Jahren als Mündel des „Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse" der Stiftung Pro Juventute aus seiner jenischen Familie gerissen und in Heimen, Anstalten sowie bei Bauern an verschiedenen Orten fremdplatziert und von seiner jenischen Verwandschaft ferngehalten. Er fand aber in seine kulturelle Identität zurück und ist seit 1985 Präsident der Radgenossenschaft der Landstrasse. Das Interview wurde im November 1986 auf Tonband aufgenommen und als Transskript, mit Einschüben aus offiziellen Angaben zu den erwähnten Institutionen, publiziert in: Thomas Huonker, Fahrendes Volk - verfolgt und verfemt, Jenische Lebensläufe, Herausgegeben von der Radgenossenschaft der Landstrasse, Zürich, erste Auflage 1987, 2. Auflage 1990, S. 230 – 241
„Ich habe mit meinen Geschwistern darüber gesprochen, weshalb es zur Auflösung unserer Familie gekommen ist. Meine Mutter war damals etwa dreisssig. Sie hat zwölf Kinder gehabt. Und als dann ihr Mann, mein Vater, so plötzlich starb, hatte sie eine Art von kurzem Lebensnachholbedarf. Ich begreife das heute. Sie ging alle Tage hausieren, sie musste für die Familie sorgen, und plötzlich war sie frei. Da sass sie halt herum und gab sich mit Leuten ab, mit denen sie sich besser nicht abgegeben hätte. Das brach ihr das Genick. Es hiess: Diese Frau ist total unfähig, Kinder zu erziehen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Frau zwölf Kinder auf die Welt bringt, von denen das älteste 14jährig war, und dass sie dann von einem Tag auf den andern nicht mehr fähig sein sollte, Kinder zu erziehen. Die elterliche Gewalt wurde ihr entzogen. Die Kinder wurden alle geholt und auf Heime verteilt. Dabei wohnte die Familie damals in einem Haus, das ihr gehörte, in B., Kanton Glarus. Im Sommer ging die Familie jeweils auf Fahrt, aber in den Wintermonaten wohnte sie in diesem Haus. Das Haus wurde nach Auflösung der Familie verkauft. Ich weiss heute noch nicht, wie dieser Verkauf vor sich ging. Die Mutter war nach der Familienauseinanderreissung sofort für zwei Jahre zur Nacherziehung in eine Arbeitserziehungsanstalt versorgt worden, nach Realta. Realta „Kantonale Korrektionsanstalt Realta, bei Cazis, Bezirk Heinzenberg. 1854 eröffnete Staatsanstalt zur Besserung Korrektioneller. Steht unter Aufsicht des Kleinen Rates, resp. dessen Finanzdepartementes. 2 Anstaltsgebäude mit Raum für 60 – 70 Zöglinge, die in der eigenen Land- und Forstwirtschaft beschäftigt werden. Von den Detinierten sind meistens 90 % Männer, 10 % Weiber. Verpflegung alkoholfrei. Für korrektionelle Männer beträgt das Pflegegeld 80 und für Weiber 70 Rappen pro Tag. Arbeitsentschädigung nach Leistung 80 – 200 Rappen für Männer, 70 – 200 Rappen für Weiber. Von der Arbeitsentschädigung wird zunächst das Kostgeld und die Kleidung bezahlt; allfälliger Rest wird den Detinierten als Pekulium gutgeschrieben. In die Korrektionsanstalt werden aufgenommen, sofern sie erwachsen und arbeitsfähig sind: a) liederliche und arbeitsscheue Personen, b) Gewohnheitstrinker, c) Personen, die nach Polizei- oder Strafgesetz zur korrektionellen Behandlung überwiesen werden. Die Befugnis zur Versetzung steht der Vormundschaftsbehörde des Heimat- oder Wohnortes, sowie den Kriminal- und Polizeigerichten zu. Dem an den Chef des kantonalen Finanzdepartements zu richtenden Aufnahmegesuch muss ein Auszug des Protokolls der die Versetzung beschliessenden Behörde beigelegt werden. Bei der Aufnahm muss jeder mit einer ordentlichen doppelten Bekleidung und mit einem ärztlichen Zeugnis, dass er an keiner ansteckenden Krankheit leidet, versehen sein. Die Vormundschaftsbehörden könnnen erstmalige Versetzung auf die Dauer von einem bis anderthalb Jahre verfügen.“ „Kantonale Arbeiterkolonie Realta bei Cazis, Bezirk Heinzenberg (staatlich, interkonfessionell). Gegründet 1924. Aufnahme findet jede arbeitslose, aber arbeitsfähige und arbeitswillige Person, soweit der Raum reicht. In erster Linie sind Kantonsbürger zu berücksichtigen. Sie dient auch mit Vorteil jener Kategorie von Menschen, die einer gewissen Aufsicht oder doch Anleitung bedürfen, um sich im Leben zurecht zu finden und die bei völliger Freiheit dem Vagantentum oder dem Alkoholismus verfallen würden. Auch zur Korrektion Verurteilte werden aufgenommen, denen dann bei guter Führung in der Kolonie die Korrektionsstrafe erlassen wird.“ (Handbuch der sozialen Arbeit in der Schweiz, 1933. Bearbeitet im Auftrag der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft von A. Wild, a. Pfr., Zentralsekretär der Schweiz. Gemeinnützigen Gesellschaft, Zürich 1933, Band 2, S. 29, S. 24) Eine ältere Schwester erzählte mir, man habe die Mutter massiv bedroht; Wenn sie irgendwie den Kindern nachforsche, dann werde sie sofort aufs neue versorgt. Sie tat zwar ihr möglichstes: Schon drei Jahre nach der Familienauseinanderreissung nahm sie Kontakt auf mit den ältesten Kindern. Aber das musste so vor sich gehen, dass die Behörden nichts vernahmen davon. Hätte sie ein Kind zu sich genommen, so wäre sie sofort versorgt worden. Sie heiratete dann wieder, einen Sesshaften. Da konnte man nicht mehr so an sie herankommen. Aber man gab ihr auch keine Auskunft über ihre Kinder. Das erste Mal, als ich sie und jemanden von meinen Geschwistern sah, war ich 19jährig. Ich kam kurz nach der Geburt – weil es meinem Vater schlecht ging – zu einem Onkel mütterlicherseits nach Obervaz GR. Dort war ich etwa drei Jahre. Ich blieb dort, als mein Vater starb und meine Mutter versorgt wurde. Ich hätte dort auch bleiben können. Es gab keinen Grund, mich von dort fortzunehmen. Sie hatten selber vier oder fünf Kinder, die es alle gut hatten. Diese Kinder wurde nie weggenommen. Die Akten werden dann ans Licht bringen, wann ich von dort wegkam. Mein Vater starb ja anno 1934, im März. Es muss etwa anno 36, 37 gewesen sein, als sie mich holten. Meine Familie war damals schon aufgelöst. Meine Geschwister kamen schon vorher weg. Ich war der letzte, den sie fanden. Es lebt noch eine Person aus dieser Familie, die ganz genau erzählen kann, wie ich weggenommen wurde; sie war damals 16jährig. Es war eine Zwangswegnahme. Die ganze Familie wehrte sich dagegen, aber es nützte nichts. Wenn eine Familie einmal in diese Siegfried-Aktion geraten war, mussten einfach alle geholt werden. Wie und wo, das spielte keine Rolle, das Kind gehörte einfach zu dieser Familie und wurde geholt. Mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen. Diese Familie musste in Obervaz den Sommer über auf die Alp. Sie durften nicht mehr fahren. Sie mussten den Bauern die Kühe hüten. Im Herbst liess man sie dann hausieren, damit sie der Armenkasse keine Kosten machten. Da spielte es dann keine Rolle, wenn sie ein wenig herumzogen. Das ist ja heute noch oft so in vielen Bündner Gemeinden. Als Knechte sind die Jenischen noch irgendwie tragbar. Ich kenne Familien, die während 20, 30 Sommern auf der Alp waren. Früher gab es ja in Graubünden keine Sommerschule. Aber es spielte bei den Jenischen auch keine so grosse Rolle, ob sie nun ein bisschen mehr als die Primarschule oder überhaupt nur die Primarschule machten. Man schickte sie auch nicht in die Sekundarschule. Man wollte sie ja wissentlich und willentlich nicht weiterbilden. Über eine Knecht oder Bäcker oder Metzger hinaus hätte ja keiner kommen dürfen. Das ist eigentlich bis in die letzten Jahre so geblieben. In der Konjunktur verdienten dann auch die Jenischen Geld. Es gibt schon auch Familien jenischer Abstammung, deren Kinder mehr Schulbildung bekamen. Aber das sind Kinder aus Familien, die eigentlich schon nicht mehr jenisch lebten, aus Familien, die sich schon seit längerem angepasst hatten. Das sind eigentlich Ausnahmefälle. Vorgestern spielte ja in der Fernsehsendung ‚Stadt und Land’ eine Bündner Familienmusik. Das sind todsicher Jenische. Darauf würde ich meinen Kopf setzen. Die Abstammung ist ganz sicher jenisch. Gerade gestern redete ich darüber mit einem anderen Fahrenden. Er meinte, das seien ganz sicher Jenische, nur lebten sie nicht mehr wie Jenische. Gerade in Graubünden trug die Aktion Kinder der Landstrasse schon Früchte. Im Bündnerland ist ja heute noch die Behördenangst unheimlich gross. Ich glaube, die Aktion Kinder der Landstrasse richtete nirgends so viel Unheil an wie in den Kantonen Graubünden und Schwyz. Es gibt aber auch sesshafte Jenische, die so jenisch sind wie einer, der fährt. Das gibt es auch bei den Zigeunern im Ausland. Ich glaube, es ist ganz falsch zu meinen, ein Jenischer sei einer, der im Wohnwagen lebe. Das ist nicht so. Ich kenne auch einige, die heute gut stehen. Denen ist es aber immer wieder ein Bedürfnis, unter Jenischen zu sein, weil ihnen das sonst doch fehlt. Sie sagen, sie seien genau gleich Jenische, obwohl sie eine Villa und weiss ich wie viel Geld besitzen. Nun erzähle ich weiter von dem Zeitpunkt an, an den ich mich schwach zurückerinnern kann. Von Obervaz wurde ich in ein Kinderheim in Chur verbracht. Soweit ich mich erinnern kann, war ich nicht lange dort. Ich kam dann zu einer Familie im Thurgau. Sie waren gut katholisch, hatten fünf oder sechs Kinder und nagten selber am Hungertuch. Sie hatten damals auch selber zuwenig für ihre eigenen Kinder. Man nahm mich wohl eher auf, damit man sagen konnte, als Katholik erfülle man die Pflicht, jemanden aufzunehmen. Ob man ihm gut schauen könne und ihn wirklich in die Familie aufnehmen könne oder nicht, das war weniger wichtig. Bei dieser Familie besuchte ich die Schule während vier oder fünf Jahren. Es ging schlecht und recht, eher schlecht, weil einfach kein Verständnis da war. Ich hatte keine Ahnung von der Liebe, die man sonst einem Kind entgegenbringt. Man versteckte alles vor mir. Alle zwei, drei Monate wurden mir die Haare auf dem Kopf abrasiert, radikal, weil das der billigste Schnitt war. Ich war im Dorf der einzige mit diesem Radikalschnitt. Ich war eben einfach das Pflegekind. Ich hatte ja auch einen anderen Namen als die Pflegeeltern. Das wurde auch in der Schule diskutiert. In dieser Familie sagte man mir, mein verstorbener Vater sei ein relativ angesehener Mann gewesen, aber die Mutter sei gar nichts wert, sie sei eine Alkoholikerin und nicht mehr da. Von meinen Geschwistern war gar nie die Rede. Durch den katholischen Pfarrer von S. wurde ich dann an eine Bauernfamilie vermittelt in H., auch im Kanton Thurgau. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich von der ersten Pflegefamilie wegkam. Es hiess: Heute hast du einen freien Tag. Am andern Tag war dann der Koffer gepackt, und die Pflegemutter sagte zu mir, ich käme in eine andere Familie, sie könnten mich nicht mehr behalten. Wir fuhren nach Frauenfeld. Auf dem Bahnhof warteten wir auf den neuen Pflegevater. Er holte mich mit Ross und Wagen ab. Daran kann ich mich noch gut erinnern. Dort ging es von Anfang an gar nicht. Man hatte einfach einen billigen Knecht gesucht. Ich musste morgens um halb fünf aufstehen und im Stall helfen, obwohl ich noch ziemlich klein war, etwa zehn- oder zwölfjährig. In der Schule waren meine Leistungen schlecht, weil ich völlig übermüdet war. Eigentlich zu meinem Glück wurde ich dann ins Kinderheim Fischingen überwiesen. Waisen- und Erziehungsanstalt St. Iddazell Fischingen „Waisen- und Erziehungsanstalt St. Iddazell Fischingen, Bezirk Münchwilen (privat; römisch-katholisch). Gegründet 1879 durch Dekan Klaus sel., der hierfür eine Gesellschaft von weltlichen und geistlichen Kinderfreunden – den ‚Verein für die Waisenanstalt St. Iddazell’ bildete. Dieser ist Eigentümer der Anstalt. Direktor, 1 Lehrer und 3 (weltliche) Lehrerinnen. 16 Schwestern von Menzingen. Eigenes Anstaltsgebäude (das ehemalige Kloster Fischingen) mit Raum für 250 Zöglinge, welche in der Anstalt Primarschulunterricht unter staatlicher Aufsicht erhalten und mit häuslichen und landwirtschaftlichen Arbeiten beschäftigt werden. Aufnahme jederzeit, soweit Platz vorhanden. Meldungen an die Direktion. Augenommen werden Kinder vom 1. Tage an; Entlassung in der Regel mit dem Austritt aus der Schule (15. Jahr). [...] Kostgeld: 1 Franken pro Tag.“ (Handbuch der sozialen Arbeit in der Schweiz, 1933. Bearbeitet im Auftrag der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft von A. Wild, a. Pfr., Zentralsekretär der Schweiz. Gemeinnützigen Gesellschaft, Zürich 1933, Band 1, S. 276f.) Dort hatte ich das erste Mal, seit ich mich erinnern kann, eine relativ schöne Zeit. Ich war unter Gleichen, ich war anerkannt. Wenn wir Kartoffeln schälen mussten oder andere Arbeiten machen, so mussten das alle tun, und es war auch keine Strafe. Dort absolvierte ich das Ende meiner Schulzeit. Ich hatte dann einen schweren Unfall. Wir mussten für dieses Heim in Fischingen Milch holen mit Ross und Wagen. Diesen Wagen überschlug es, und mein Bein geriet ins Rad. Deshalb blieb ich auch nach der Schulzeit noch ungefähr ein oder anderthalb Jahre in Fischingen als Hilfe in der Gärtnerei. Ich hatte ein gutes Verhältnis mit dem dortigen Verwalter. Ein Vater hätte kein besseres Verständnis haben können. Aber auch dort hiess es eines Tages: Jetzt kommst du nach E., Kanton Solothurn, wieder zu einer Bauernfamilie. Dabei war es so: Wenn ich nur schon das Wort Bauernfamilie hörte, hatte ich bereits einen Schock. Das war mir ein Horror, wenn ich nur schon von Kühen und Landwirtschaft hörte. In E. war zwei Tage vorher ein Bruder von mir weggekommen. Damals hörte ich das erste Mal von Geschwistern. Es hiess: Wenn Du in diesem Jahr so arbeitest wie dein Bruder im Jahr vorher, dann kommen wir aus miteinander. Andernfalls kennst du die Konsequenzen: Dann läuten wir dem Dr. Siegfried an. Das war nicht das erste Mal, dass er erwähnt wurde. Er war öfters auf Besuch gekommen. Ich erinnere mich vor allem aus der Zeit an ihn, als ich noch sehr klein war, etwa vierjährig. Er passte einen irgendwo ab und tippten einem dann von hinten auf die Schulter und fragte: Kennst du mich noch? Das war das Spielchen, das zu treiben er in sich hatte. In E. ging es gar nicht gut. Es kam zu Schwierigkeiten, und ich wurde von einem Fürsorger abgeholt und ohne Begründung nach Bellechasse FR gebracht. Ich war dort etwa ein Jahr lang, und zwar im Erlenhof, der Jugenderziehungsanstalt für Knaben. Erlenhof, Bellechasse „Die Abteilung für Minderjährige ist in dem ‚Les Vernes’ oder ‚Erlenhof’ genannten Gebäude untergebracht. Dieser grosse Pavillon ist total isoliert von den anderen Gebäuden und drei Kilometer von Bellechasse entfernt.“ „Die Abteilung bedeutet eine noch deutlichere Unterscheidung zwischen den Methoden der Korrektion, welche den Erwachsenen gegenüber angewendet werden, und den Nacherziehungsmassnahmen, welche den Minderjährigen vorbehalten sind. Sie ist auch eine Antwort auf das pädagogische Prinzip, welches kleine Kolonien von Jugendlichen befürwortet, welche eine individuelle Erziehung und die vertiefte Erforschung des Charakters von jedem Einzelnen erlauben.“ „Man unterrichtet sie in Hygiene, Gymnastik und Gesang, und man gibt ihnen eine vorbereitende militärische Instruktion.“ (Zitate übersetzt aus der anonymen Jubiläumsschrift: Les établissements de Bellechasse 1898 – 1948, Fribourg 1948) Am Sonntagmorgen mussten wir in die grosse Kirche des sogenannten Bâtiments – d.h. des Zuchthauses – gehen, in Kolonne, von Wärtern begleitet. Im Schlafraum waren etwa 20 oder 30 Jugendliche untergebracht. Man legte viel Wert auf militärischen Drill. Marschschritt, Befehlsausführung, usw. Wenn einer nicht spurte oder einen Fluchtversuch machte, kam er für zehn Tage in Dunkelarrest. Ich wurde dort ein wenig aufmüpfig, unheimlich aufmüpfig sogar. Dort lernte ich auch Jenische kennen. Sie kannten meine Geschwistern und sprachen mich darauf hin an. Sie wussten auch, dass ich meine Mutter noch hatte. Vorher wusste ich nur von diesem Bruder, der vor mir in E. bei diesem Bauern gearbeitet hatte, und von einer Schwester, die kurz vor mir in Fischingen gewesen war. Man nahm mich dann weg aus Bellechasse. Es hiess, ich solle eine Metzgerlehre machen. Ich kann ja alles in meinem Leben, aber Metzgen, das war mir das letzte. Ich hatte keine Freude daran. Da hiess es: Ja, wenn du das auch nicht machen willst, dann kommst du eben wieder in eine Anstalt. Es wurde nicht gefragt, was ich denn machen wolle. So kam ich nach Herdern. Herdern „Thurgau, Arbeiterkolonie Herdern. Plätze total 102, davon in Zimmern mit 1 – 4 Betten 52, mit 4 – 8 Betten 50. Arbeitsmöglichkeiten: 105 ha Kulturland, 88 Stück Grossvieh, 500 Stück Kleinvieh, andere: Wald, Alp, Steinbrecherei, Tiefbau, Meliorationen. [...] Freizeiteinrichtungen: Bibliothek, Vorträge, Film.“ (Handbuch der Sozialen Arbeit der Schweiz, bearbeitet von Dr. jur. Emma Steiger, herausgegeben von der Gemeinnützigen Gesellschaft der Schweiz, Zürich 1948, S. 264) Dem sagten sie Jugendgymnasium. Das war aber nur eine Übergangslösung. Von dort kam ich wieder nach Bellechasse. Ich war jetzt also ein Jahr in Bellechasse gewesen, ein Jahr anderswo und wieder ein Jahr in Bellechasse. Ich habe nie ein Urteil oder eine Begründung dafür gesehen. Es waren damals verschiedene Jenische in Bellechasse. Wir wollten einen Fluchtversuch starten. Ich war einer der massgeblich Beteiligten. Ich kann mich noch erinnern, wie wenn das heute wäre. Plötzlich, am Abend etwa um vier Uhr, kamen einige Wärter auf das Feld und pickten mich heraus. So wurde ich ins Zuchthaus Bellechasse eingeliefert, ins Bâtiment. Auch im Erlenhof [der Arbeitserziehungsabteilung für männliche Jugendliche in Bellechasse] wurde man bei der Einlieferung kahlrasiert. Ich kam in einen Zellengang, wo damals noch Kriegsverbrecher sassen. Einer hatte in der SS gedient. Das war kurz nach dem Krieg. Ein anderer hatte seinen Vater ermordet, wieder ein anderer hatte seinen Vormund erschossen. Im ganzen Zellengang waren nur Mörder und politische Verbrecher untergebracht. Ich war in den Sicherheitstrakt von Bellechasse eingeliefert worden. Wir bekamen gelbe Kleider mit braunen Streifen. In den anderen Zellengängen trugen sie getüpfelte braune Kleider. Man nahm die Matratze aus meiner Zelle heraus für die ersten acht Tage. Am einen Tag gab es Wasser und Brot, am anderen eine Suppe. Dann wurde ich einer Spezialbrigole [einem Spezial-Arbeitstrupp] zugeteilt, zusammen mit Schwerverbrechern. Auf fünf oder sechs Häftlinge kamen drei bewaffnete Wärter. Wir arbeiteten auf dem Feld, und die Wächter spazierten umher. Heute noch denke ich oft zurück an diese Mörder, diese Verbrecher. Sie waren auf ihre Art gar nicht so schlechte Menschen. Jedenfalls teilten sie mit mir das Brot. Sie fanden es nicht recht, einen so jungen Menschen dort einzusperren. Sie haben mich gar nicht verdorben. Natürlich diskutierte man über Ausbrüche, über Verbrechen und deren Technik. Das war das Tagesgespräch dort, wenn man überhaupt ein paar Worte wechseln konnte. Einmal war Weihnachten. Das könnte man in den Akten zurückverfolgen, wann das war. Ich weiss die Jahreszahl nicht mehr. Wir waren insgesamt etwa 600 Gefangene, wenn ich mich nicht täusche, allen Abteilungen von Bellechasse. Ich kam dann als letzter in diesen Saal hinein. Und ich kann mich noch ganz genau an die Worte des damaligen Direktors erinnern. Er sagte: Da seht ihr jetzt einen, dem wird Bellechasse ganz sicher zur Heimat werden. Das wird ein Profiverbrecher. Und wenn er auch einmal herauskommt, so wird er bald wieder hineinkommen. Und entweder wird er dann dauernd verwahrt, oder er begeht ein Delikt, auf dem lebenslängliche Haft steht. Das gab mir den Anstoss, über mein Leben nachzudenken. Ich sagte mir: Das kann doch nicht die Endstation sein für mich. In Bellechasse erhielt ich den ersten Brief meiner Mutter. Post ging nicht hinaus aus Bellechasse. Aber durch andere Jenische, die entlassen worden waren, war der Kontakt zu ihr geknüpft worden. In Bellechasse kannte man den Entlassungstermin nicht. Es hiess dann einfach am Morgen: Huber, Schublade. Das hiess eigentlich, man müsse die Schublade ausräumen für den nächsten, der kam. So liess man mich dann schliesslich gehen. Ich kam zu einem Weinbauern nach Genf. Dort war ich etwa ein halbes Jahr lang. Ich war jetzt etwa 19jährig. Da dachte ich, ich sei jetzt alt genug, um meine Familie kennenzulernen. Ich ging zu meiner Mutter, die in St. Gallen wohnte. Die erste Begegnung war eine totale Enttäuschung. Ich hatte mir das alles ganz anders vorgestellt. Es kamen dann noch andere Geschwister zum Vorschein. Ein Bruder erklärte sich bereit, mich zu ihm ins Bündnerland zu nehmen. Natürlich ohne das Wissen der Vormundschaftsbehörde. Er ging mit seiner Frau dem Hausierhandel nach, und ich schaute zu seinen beiden Buben. Eines Mittags, etwa um halb drei, kam die Vormundschaftsbehörde des Oberhalbstein und sonst noch einer von meiner Heimatgemeinde Savognin sowie ein Polizist, und ich wurde verhaftet. Ohne Angabe eines Grundes wurde ich in die Strafanstalt Realta in Cazis, Graubünden, eingeliefert. Etwa um halb vier war ich dort. Ich kannte mich ja nun allmählich aus in den Gefängnissen und fand rasch Kontakt zu den Insassen. Einer von ihnen war ein unheimlicher Kämpfer gegen die Behörden. Er war sicher nicht unschuldig dort, aber er wusste Bescheid. Er hat mich beraten. Wir begannen zu schreiben, machten Rekurs. Der ging hinaus, an den Kleinen Rat von Graubünden. Das muss etwa 1952 gewesen sein. Ich war etwa ein Jahr lang in der Strafanstalt Realta. Der Kleine Rat taxierte das Vorgehen der Vormundschaftsbehörde als unzulässig. Als dieses Schreiben kam, riet mir mein Berater zur Flucht. Ich hatte dort eine Vertrauensstellung als Mitfahrer auf dem Traktor. Am selben Abend floh ich. Man erwischte mich nicht. Vier Tage später telefonierte ich in meine Heimatgemeinde und wies sie auf den Entscheid des Kleinen Rates hin. Sie luden mich auf eine Sitzung des Gemeinderates vor. Ein anderer Jenischer riet mir, an diese Sitzung zu gehen und die Vormundschaft aufzuheben. Falls es nicht klappe und ich wieder eingeliefert würde, würden sie mich schon aus Realta herausholen. So ging ich freiwillig in meine Heimatgemeinde. Es hiess dann, man zeige mir gegenüber guten Willen. Auf Zusehen hin lasse man mich springen. Aber die Bevormundung durch einen Einwohner meiner Heimatgemeinde gehe weiter, auch über die Volljährigkeit hinaus. Aber immerhin kam ich damals von der Pro Juventute weg. Diese Vormundschaft wurde aber nie publiziert. Sie war nie im Amtsblatt. Sie wurde auch nie aufgelöst. Im Prinzip wäre ich heute noch bevormundet. Später, als ich 24jährig war und schon im Wohnwagen lebte, kam plötzlich die Polizei. Das war in Zürich. Es hiess, die Heimatgemeinde Savognin habe mich ausschreiben lassen. Sie wollten wissen, wo ich sei. Da begann wieder die Panik. Ich ging sofort ans Telefon, um mich zu erkundigen, was los sei. Es hiess dann, es sei eigentlich nichts Konkretes, man wolle bloss wissen, wo ich sei. Die Vormundschaft bestehe schliesslich immer noch. Ich fragte, weshalb ich denn noch bevormundet sei. Es hiess, sie sei nie aufgelöst worden und werde auch weiterhin bestehen. Bis heute bin ich nicht im Besitz einer schriftlichen Auflösung meiner Vormundschaft. Die Vormundschaft meldete sich dann allerdings nicht mehr, als ich dann heiratete. Als Bevormundeter würde man dazu ja eine Bewilligung brauchen. Aber das brauchte ich damals nicht mehr. Aufgelöst wurde die Vormundschaft also, aber es wurde mir nie offiziell mitgeteilt, wann. Rückblickend muss ich sagen, dass man mir mit drei oder vier Jahren ein Urteil sprach, das auf ‚lebenslänglich Heim’ oder ‚ständig von einem Ort ans andere’ lautete. Ich kann mich nicht erinnern, dass mir während meiner Kindheit je jemand gesagt hätte, er oder sie sei für mich da, wenn ich Probleme habe. Das war auch bei den damaligen Pfarrern, mit denen ich zu tun hatte, nicht der Fall. Sie wussten alle genau, wer ich bin. Aber in Lenzburg, als wir – unser vier Jenische – je einen Monat machen mussten, wegen Altmetall, das wir nicht bezahlt hatten (ich war damals 22jährig und wir waren arm wie Kirchenmäuse), erkannte ich einen dieser Pfarrer wieder, auf dem Hofspaziergang. Er ging hinter mir, auch in Sträflingskleidern. Das war jener Pfarrer, der damals mit dabei war, als sie mich umplazierten. Er war Vikar in S. im Kanton Thurgau gewesen und kam dann wegen Sittlichkeitsdelikten nach Lenzburg. Kaum hatte ich ihn erkannt, wurde ich sofort verlegt. Schlimm war eben auch, dass ich sehr lange brauchte, um wieder den Anschluss zu finden. Ich hatte gar keine jenische Lebensart mehr. Ich war unheimlich aggressiv gegen die Behörden und vor allem gegen die Polizei. Ich hatte noch jahrelang Schwierigkeiten mit dieser Aggressivität. Ich bezahlte beigenweise Bussen wegen Beamtenbeleidigung und auch wegen Tätlichkeiten. Damals kannte man noch jeden Jenischen an seinem typischen Aussehen. Man trug damals eine Lederjacke und Manchesterhosen; das hielt am längsten. Und man trug meistens auch ein Halstüchlein. Man konnte gar nicht in einem Bahnhofbuffet oder in einem anderen Restaurant sitzen, ohne dass nicht spätestens nach einer Viertelstunde oder einer halben Stunde die Polizei aufgetaucht wäre, um Personenkontrolle zu machen. Es hiess: Da ist ein Tisch mit Jenischen. Dort wurde dann kontrolliert. Natürlich ging es manchmal etwas laut zu und her, wenn wir uns trafen, aber es ging immer unheimlich schnell, die Polizei war sofort da. Personenkontrolle hätte man ja noch akzeptieren können, aber meist musste man ja auch gleich noch mit auf den Posten. Es war nicht getan mit dem Zeigen des Ausweises. Und auf dem Posten ging es dann los mit der Anfragerei an die Heimatgemeinde, an die Behörden, an die Vormundschaft. Es ging immer um die Frage, ob da nicht einer dabei sei, den man wieder versorgen könne. Es war alles vorprogrammiert. Es gab selten einen Polizisten, der nicht sofort die Heimatgemeinde anfragte. Entweder man gab den Vormund an, oder er erfuhr es auf der Heimatgemeinde. Deshalb war es ja so einfach, Flüchtige wieder einzubringen. Ich glaube, die Polizisten waren so instruiert, dass sie diese Leute einfach melden und so schnell wie möglich aus dem Verkehr ziehen mussten. Es galt: Das sind Jenische, im Prinzip Vogelfreie, man muss sie kontrollieren und den zuständigen Stellen weitergeben. Es kam fast nie vor, dass ein Polizist bei einer Kontrolle sagte, alles sei in Ordnung, und man könne wieder gehen. Darum ging es gar nicht. Man suchte einfach einen Grund, um einen wieder irgendwohin auszuliefern. Es hiess dann z.B., einer habe zu wenig oder gar kein Geld auf sich. Das war noch Mitte der 1950er Jahre so. Und es ist heute noch so. Noch heute wird darauf geachtet, einen, der jenisch aussieht, sofort zu kontrollieren. Davon können gerade die jungen Jenischen ein Lied singen. Wenn man dann einmal über dreissig ist, dann ist auch der Polizist nicht mehr ganz sicher, wie weit er gehen kann. Aber gerade junge Jenische müssen auch heute noch – auch wenn sie ein Patent gelöst haben – auf den Posten mitgehen zur Kontrolle. Dabei weiss ja jeder Polizist, dass einer, der ein Patent hat, auch einen sauberen Leumund haben muss. Ein junger Jenischer hat auch auf der Strasse viel mehr Schwierigkeiten als ein Sesshafter, der mit seinem Campingwagen in die Ferien fährt. Die Polizei sieht es an der Überbreite der Wohnwagen, dass einer ein Jenischer ist. Und da wird oft einfach unnötigerweise kontrolliert und teilweise schikaniert. Es wird zurückgefragt, ob er ausgeschrieben ist, es heisst, man müsse überprüfen, ob er angemeldet ist. Das blosse Vorweisen der Ausweise genügt selten. Wenn die Ausweise gezeigt werden, wird oft zurückgefragt, ob sie echt seien. Die Kontrollen gehen bei den Jenischen ganz anders vor sich als bei den übrigen Bürgern. Wenn man reklamiert, heisst es, es sei keine Schikane, sondern Übereifer einzelner Beamter. In einem Punkt sind wir vielleicht besonders empfindlich: Wenn beispielsweise fünf Wohnwagen irgendwo stehen und die Kinder draussen spielen, vielleicht zwei- bis siebenjährige Kinder, und es heisst dann plötzlich, man wolle auch noch die Ausweise dieser Kinder sehen. Das sind doch sicher Kinder, die zu diesen Wohnwagen gehören! Es gab ja noch nie einen Fall, wo ein Jenischer ein Kind entführt hätte, obwohl sie uns das unheimlich gern anhängen würden. Ich weiss einen Fall von M., Kanton Thurgau, wo zwei Polizisten auf der Suche nach einem verschwundenen Kind durch die Scheiben der Wohnwagen hineinschauten. Sie hätten ja fragen können. Aber doch nicht einfach die Wohnwagen kontrollieren, ohne die Besitzer zu fragen. Auch in B. im Kanton Graubünden hiess es, als ich auf die Gemeinde telefonierte: Die Jenischen seien da, und die Mütter getrauten sich mit den Kindern nicht ins Freie. Sie müssten einmal ganz unauffällig bei einer solchen Polizeikontrolle dabei sein, dann würden sie schon sehen, wie das geht. Diese Kontrolle erstreckt sich ja über die Person, über den Anhänger, über die Autos, über alles. Das geht jeweils unheimlich schnell. Ich glaube manchmal an Rauchzeichen. Die Plätze sind immer ein bisschen unter Beobachtung. Wenn einer vorfährt, wird er meistens innert einer halben Stunde oder einer Stunde kontrolliert. Die Kontrolle hat mit dem Anmelden gar nichts zu tun, die läuft gleich ab, ob man angemeldet ist oder nicht. Es heisst dann: Anmelden kann sich jeder, aber wir müssen wissen, ob es auch derjenige ist, der sich angemeldet hat. Meistens kommen mehrere Polizisten, sicher zwei. Einer allein kommt ganz selten. Es heisst von uns ja immer, einzeln könne man mit uns diskutieren, aber im Rudel sei das katastrophal. Aber ich glaube, das trifft auf die Gegenseite auch zu. Manchmal werden die Kontrollen mitten in der Nacht durchgeführt, vielleicht nachts um zwölf Uhr, obwohl unsere Wagen ja Wohnstätten sind. Das dürften sie gar nicht. Aber es heisst dann immer: Bei euch weiss man ja nie. Es könnte ja sein... Ich weiss von einem Fall, vor vier Jahren, in Graubünden. Es war ein Fahrender mit vier Kindern. Sein Schwiegervater war neben ihm. Nachts um ein Uhr kamen sie klopfen. Es waren vier Polizisten. Sie machten grossen Lärm. Er sagte, sie hätten schlafende Kleinkinder im Wagen. Da hiess es, das gehe sie nichts an. Er müsse jetzt abfahren. Anhängen und abfahren. Am Morgen um halb zwei mit schlafenden Kindern im Anhänger! Obwohl jeder Polizist weiss, dass es verboten ist, mit einem Kind oder überhaupt einer Person im Anhänger zu fahren. Es ist genau dasselbe mit dem Anmelden. Man ist jedem Gemeindepräsidenten ausgeliefert. Ich glaube doch, es ist ein unheimlicher Eingriff, wenn man sagt, ihr müsst euch in jeder Gemeinde als Bittsteller melden. Wenn der gleiche Kanton ein Visum verlangt für das Hausierpatent, ist ja jeder schon angemeldet als Schweizer und besteuert und irgendwo daheim. Er muss sich aber noch jede Woche, vier- oder fünfmal im Monat anmelden. Man sagt immer: Die Sesshaften müssen sich ja auch anmelden. Aber es gibt da einen kleinen Unterschied: Wenn Sie sich in einem Hotel anmelden, dann übernimmt das Hotel eine Garantie, Sie sind versichert, wenn in diesem Hotel etwas passiert. Aber jede Gemeinde lehnt von Grund auf alles ab. Sie nehmen sogar noch Gebühren. Aber sie sind nicht bereit, irgend etwas zu tun für uns oder für irgendetwas gutzustehen. Wenn etwas passiert, dann wissen sie von nichts. Aber trotzdem wollen sie wissen, wer man ist. Wir werden so oft angemeldet und aufgeschrieben, dass man zuletzt wieder sagen könnte – das ist jetzt mein Gedankengang – : Schaut einmal, wo der in den letzten Jahren überall herumgezogen ist! Das kann ja nicht gut gehen! Ich habe das schon selber erlebt. Letzhin wollten sie schon wissen, wo wir denn vor zwei Monaten gewesen seien. Diese Kontrolle geht ja durch alles durch, und wer garantiert dann für Verschwiegenheit oder Datenschutz oder was weiss ich wie sie dem alles so schön sagen? Ich glaube, auch hier haben wir nicht eine unbegründete Angst, dass diese Anmelderei auch wieder überbordet. Dass man uns noch mehr unter Kontrolle haben will, dass man noch genauer wissen will, wo man ist. Das sehen sogar Bundesbehörden ein, dass das zu weit geht. Wir sind eben nicht gleich vor dem Gesetz. Spätestens wenn einer das erste Delikt begeht, wird es heissen: Ja, das sind eben Fahrende. Oder: Die stammen von Fahrenden ab. Gerade in Kantonen wie Graubünden oder Schwyz steht einer, der in den Akten als Fahrender vermerkt ist, bereits neben dem Gesetz. Er hat nicht die gleichen Möglichkeiten wie ein anderer, bei dem steht, er sei ein Muotathaler oder oder sonstwoher. Man hat ja die Jenischen immer als Sündenböcke dargestellt und suchte hinter ihnen etwas, das es gar nicht gab. Das ist auch heute noch so. Wenn beispielsweise im Standplatz Leutschenbach in Zürich irgend etwas passiert, dann wird ein grosser Prozentsatz der Bevölkerung sagen: Man wusste ja bereits, als die Jenischen hierher kamen, dass das nicht gehen kann. Es sind ja Jenische. Ich glaube einfach, dass es nur möglich wäre, diese Probleme zu beheben, wenn der Staat sich einmal bekennen würde zu dem, was getan worden ist. Wenn er öffentlich ein Bekenntnis ablegen würde und sagen: Jawohl, das wurde getan. Man distanziert sich nicht, sondern sagt: Das wurde getan. Und jetzt tun wir einmal etwas Anderes! Sogar Bundesstellen sagen heute: Es ist immer noch genau gleich. Nur auf eine andere Art. Diese Beamten rennen im Bund selber gegen Wände an. Sobald sie an gewisse Personen herankommen, welche damit zu tun hatten, ist es auch für diese Beamten fertig. Es ist einfach viel ausgeklügelter, aber es ist immer noch das gleiche. Sprechen Sie einmal mit einem Bundesbeamten, der damit zu tun hat. Der sagt: Hören Sie, ich bin manchmal so fertig, ich weiss gar nicht mehr, wo ich anklopfen soll. Ich weiss von einem Brief an diesen Welschen im Militärdepartement, Delamuraz. Er muss einen ganz sauren Brief geschrieben haben auf die Anfrage hin, ob der Bund nicht eventuell ein wenig Land für die Fahrenden zur Verfügung stellen wolle. Sie haben natürlich Land. Sie haben ja Land, das sie nicht einmal brauchen. Aber es komme niemals in Frage, dass der Bund dafür Land zur Verfügung stelle. Innerhalb des Bundesrates gibt es also total verschiedene Urteile. Und das ist eben das, was einen wieder irgendwie erschreckt am Ganzen, dass es innerhalb des Bundesrates schon solche Dinge gibt, wo man bereits sagt, irgendwo stimmt etwas nicht. Ich glaube einfach, dass es mit den Jenischen so ist: Heute sind es noch die Tamilen, sind es die Türken. Und wenn man das alles dann nicht mehr hat, dann sind es zwischendurch wieder einmal die Jenischen. Man hat dann einfach wieder diese Minderheit, die man zerstampfen kann. Ich habe in der Fernsehsendung Zischtig-Club vom 28. Oktober 1986 gesagt: Wenn Geld herauszuholen ist, dann soll das für die Zukunft, für die jungen Leute, für die Zukunft der Jenischen eingesetzt werden. Da wurde ich gelegentlich ein wenig angegriffen. Es hiess: Nein, das haben wir älteren Jenischen mitgemacht. Wir sollen dieses Geld bekommen. Das ist auch wieder diese Erziehung. Ich begreife nicht, weshalb das so kam. Für einen Jenischen, der das durchgemacht hat, ist doch das erste Gebot, dass so etwas nie mehr vorkommen sollte. Das Ganze sollte für die Jungen Gesetze und Verordnungen bringen, nach denen so etwas nie mehr passieren kann. Was nützt denn sonst dieses Wiedergutmachen. Das kann man gar nicht. Ich glaube, diese Jahre, wo man mir meine Mutter und meine Geschwister entzog, die kann mir kein Staat und keine Institution mit Geld zurückgeben. Aber was mir Befriedigung geben würde, wäre die Garantie, dass das, was passiert ist, nie mehr vorkommt. Dass man hier bemüht wäre, das Ganze richtigzustellen. Dass man die Akten richtigstellen würde. Dass man Akteneinsicht geben würde. Dass man die Akten auch der Öffentlichkeit zugänglich machen würde. Dass man diese Schweinereien aufdecken und auch die Leute, die damals beteiligt waren, beim Namen nennen würde. Was einer war, spielt keine Rolle, wenn er dabei war. Ich glaube, dass ich heute mehr als je das Recht habe, meine Akten richtigzustellen. Und dass es nicht nur darum geht, was mir passiert ist, sondern auch darum, was meinen Kindern oder Enkeln passieren kann.“
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Robert Huber war 1985 zum Präsidenten der 1975 gegründeten Radgenossenschaft der Landstrasse gewählt worden, die er seitdem prägte. Er baute ein Büro und ein Archiv auf und begründete am 7. November 2003 das Dokumentations- und Begegnungszentrum am Sitz der Radgenossenschaft an der Hermetschloostrasse 73, CH-8048, Zürich. In unzähligen Aktionen, Sitzungen, Vorträgen, Editorials, Interviews etc. stand er für die Interessen und Rechte des jenischen Volkes ein und machte seine Anliegen weiten Kreisen verständlich. Motor seines Wirkens ist der Widerstand gegen den Versuch des von 1926 bis 1973 als Abteilung der Stiftung Pro Juventute betriebenen "Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse", ihn aus seiner Gemeinschaft zu reissen und ihm zwangsweise eine andere Identität aufzupfropfen, ein Schicksal, das er mit drei Generationen der Jenischen in der Schweiz teilt und das er im vorliegenden lebensgeschichtlichen Interview eindrücklich erzählt. |
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