Dokument Nr. 22:
Bericht von Hans Rudolf Schinz aus dem Jahr 1922 über eine von ihm selber durchgeführte Röntgenkastration eines Fürsorgeabhängigen in Zürich
Hans Rudolf Schinz: Ein Beitrag zur Röntgen-Kastration beim Mann
(In: Schweizerische Medizinische Wochenschrift, Basel, Jahrgang 1922, Nr. 36, 7. September 1922, S. 886-889)
S. 887 f.: "Einen fünften Fall habe ich selber röntgenkastriert. Es handelt sich um einen 34jährigen Mann, der schon 8 Kinder hat, geistig beschränkt, armengenössig und lebensuntüchtig ist. Er wird dem Chirurgen zur Kastration zugewiesen, da er seine zahlreichen Kinder nicht aufziehen kann und diese der Armenfürsorge zur Last fallen. Sowohl er wie seine Frau sind mit der Sterilisierung des männlichen Teiles einverstanden. Herr Professor Clairmont kann sich aber zur doppelseitigen Hodenexstirpation nicht entschliessen und überweist mir deshalb den Patienten zur Röntgenkastration. Ich entnehm den Bestrahlungsprotokollen folgende Daten: Siemens-Halse Spezial-Tiefentherapieapparat mit Oelinduktor und Wechselstromanschluss, 50 Perioden (Tourenzahl des Unterbrechers 1500), Siemens-Glühkathodenröhre. Er erhält am 8. VI. 21 pro Hoden von vorn je eine Röntgendosis von 85% HED einer mit 3 mm. Al. gefilterten Strahlung bei einer parallelen Funkenstrecke (Spitze zu Spitze) von 35 cm und einem Fokus-Hautabstand von 22 cm. (Bestrahlungsdauer pro Feld 12 Minuten bei 2, 5 MA.) 2 Wochen später erhält er von der Rückseite nochmals dieselbe Dosis. 8 Tage darauf, also 3 Wochen nach der 1. Bestrahlung und eine Woche nach der zweiten finden sich noch massenhaft leicht bewegliche Spermatozoen. Am 7. VII. 21, also nach vier Wochen, erhält er pro Hoden eine volle HED einer mit 5 mm Al. bei einer parallele Funkenstrecke von 35 cm und einem Fokus-Hautabstand von 22 cm (Bestrahlungsdauer pro Hoden 16 Minuten bei 2,5 MA), so dass er innerhalb 4 Wochen pro Hoden 270% HED erhalten hat, die sich auf 2 Felder pro Hoden verteilen. 14 Tage später, also 6 Wochen nach der 1. Bestrahlung, finden sich im Sekret nur noch wenig Spermatozoen, die unbeweglich sind. Am 28. VII. 1921 wird nochmals eine mit 0,5 mm Zink und 1 mm Aluminium gefilterte Strahlung von 78 % HED bei einem Fokus-Hautabstand von 22 cm und einer parallelen Funkenstrecke von 35 cm appliziert. Die Bestrahlungsdauer beträgt 25 Minuten pro Hoden bei einer Belastung von 2,5 MA. Nach 4 Wochen wird nochmals eine Strahlung derselben Qualität gegeben, aber diesmal mit 94 % HED. Das Allgemeinbefinden des Mannes war dabei ungestört. Die voluptas nahm nicht ab. Am 1. IX. 1921, also fast drei Monate nach der ersten Bestrahlung, finden sich trotz langen Suchens keine beweglichen Spermatozoen mehr. Ein einziges unbewegliches Spermatozoon konnte in einem Präparat gefunden werden. In den andern Präparaten war der Befund /S.888/ negativ; weitere Kontrolluntersuchen im November 1921 und Ende April und Mai 1922 sind absolut negativ verlaufen." Es folgen weiter detaillierte Angaben zur Strahlendosis und zu deren Absorbtion, teilweise in Tabellenform. Schinz schlussfolgert, immer noch S. 888: Wir kommen "zu dem Ergebnis, dass die Kastrationsdosis des Mannes weit höher oben als die Kastrationsdosis des Weibes liegt."
Und weiter, S. 888: "Wegleitend für weitere Kastrationsversuche beim Manne dürften aber doch die entsprechenden Untersuchungen am Weibe sein, und wir dürfen analog auch beim Manne 3 Phasen der Kastration unterscheiden: 1. die temporäre Sterilisation, 2. totale bleibende Aspermatogenese, die der Exovulation entsprechen würde, und 3. Totalkastration. Die Festlegung der notwendigen Dosen ist allerdings unendlich viel schwieriger, da uns die klinischen Symptome, vor allem das feine Reagens der Menses, fehlen, und die Indikation zur Kastration beim Manne viel seltener ist.
Vorläufig glauben wir erst festgestellt zu haben, dass die Dosis für die temporäre Sterilisation beim Manne nicht nur grösser als die Dosis für die temporäre Sterilisation beim Weibe ist, sondern sogar grösser als die Kastrationsdosis der Frau (mehr als 34 % HED) und dass die Dosis für die totale Aspermatogenese um ca. 60 % HED herum liegt, also um die Sarkomdosis."
In der Zusammenfassung (S. 889) schreibt Hans Rudolf Schinz: "Es werden ebenso wie bei der Frau 3 Stadien der Kastration festgelegt:
1. die temporäre Sterilisation mit klinischer Oligo-Nekrospermie nach Bestrahlung mit mindestens 34 % HED;
2. die totale Aspermatogenes als Parallele zur Wintz'schen Exovulation mit dem klinischen Symptom der Azoospermie nach Bestrahlung von ca. 60% HED;
3. die Totalkastration mit Zerstörung sämtlicher Bestandtteile des Hodens und klinischen Ausfallserscheinungen, deren Dosis, da beim Manne nicht erstrebenswert, noch nicht festgestellt ist."
Kommentar:
Wie es dem geschilderten Fürsorgefall nach dieser Behandlung weiter erging, ist ebenso wenig erforscht wie die Folgen anderer früher bestrahlungsmedizinischer Behandlungen, die oft mit sehr hoher Strahlungsdosierung verbunden waren, auf zahlreiche weitere Patientinnen und Patienten.
Der Zürcher Röntgenmediziner Hans Rudolf Schinz (1891 - 1966) war langjähriger Ordinarius für Röntgenmedizin an der Universität Zürich, Inhaber zahlreicher Ehrungen und Mitverfasser von Standardwerken der Röntgenmedizin. Neben der Röntgenkastration beschäftigte er sich auch mit chirurgischen und weiteren medizinischen Experimenten an Menschen- und Tierhoden, so zusammen mit Benno Slotopolsky insbesondere auch mit Hodentransplantationen. (Vgl. Hans Rudolf Schinz / Benno Slotopolsky: Beiträge zur experimentellen Pathologie des Hodens und zur Histologie und Histogenese des normalen Hodens, der Hodenatrophie und der Hodennekrose. Zürich 1924; insbesondere im Abschnitt: Einige Nutzanwendungen für die Bewertung der Hodentransplantation und anderer Sexualoperationen (S. 103-119) Dies alles war in der Schweiz den medizinischen Experimentatoren früh und und weitgehend ungebremst durch gesetzliche Regelungen oder juristische Verfahren möglich, im Unterschied zu Deutschland und anderen europäischen Ländern, deren einschlägig interessierte Aerzte von den diesbezüglichen Experimenten in der Schweiz fasziniert waren. In Deutschland wurden weitere Experimente dieser Art vor allem zwischen 1933 und 1945 und vielfach an KZ-Gefangenen durchgeführt.
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