Dokument Nr. 17: Mediabulletin zum 3. Welt-Roma-Kongress in Göttingen, BRD Erklärung der Radgenossenschaft der Landstrasse vom 16. Mai 1981 Die Radgenossenschaft der Landstrasse ist eine Gruppe, die seit 1974 versucht, in der Öffentlichkeit für die Lage der Fahrenden einzutreten. In der Schweiz leben 3000 bis 5000 Fahrende, die fahrenden Berufen nachgehen. Nicht zuletzt unter dem Einfluss des Faschismus wurde in den Jahren 1926 bis 1973 versucht, diese Minderheit verschwinden zu lassen. Zu diesem Zweck wurden die Kinder weggenommen, denen über ihre Herkunft nichts erzählt wurde und die in Anstalten oder auf dem Land zu 'anständigen' Bauernknechten oder Proletariern aufgezogen wurden. Die schrecklichen Umstände, die dabei herrschten, hat heute vor allem Mariella Mehr in ihrem biographischen Tatsachenroman 'Steinzeit' (Zytglogge Verlag Bern 198) dargestellt. In den 60er Jahren haben Künstler, Musiker und Schriftsteller wie Sergius Golowin in 'Der ewige Zigeuner' (1966, Neuauflage 1980 im Münchner Dianus Verlag) und 'Die Welt des Tarot' (Sphinx Verlag Basel, Neuauflage 1981) den Kampf gegen dieses teuflische Unrecht aufgenommen. Walter Wegmüller, unser ehemaliger Präsident, der alle seine Freunde, wie es auch Mariella Mehr und Sergius Golowin tun, von Herzen grüssen lässt, sammelte die Weisheit seiner Ahnen in seinen Tarot-Karten (Sphinx-Verlag). Baschi Bangerter gab soeben eine Schallplatte der von ihm als Kind gehörten Zigeunermusik heraus: Baschi's Scharotl (PAN 132015, Kassette PAN 142015). Viele solche Menschen wirkten zusammen, damit das ganze Schweizer Volk langsam auf die unerträgliche Lage der Fahrenden aufmerksam wurde. Seit 1973 hat auf Beschluss der obersten Behörde die Kindswegnahme aufgehört. Durch politische Vorstösse hat der Kanton Bern, wie auch nachfolgend andere Kantone, eine Arbeitsgruppe zur Verbesserung der der Lage der Fahrenden und der Sesshaften eingesetzt. Neuerdings hat der Justizminister, Bundespräsident Furgler, eine Kommission auf eidgenössischer Ebene angeregt. Mit viel Verständnis gaben die schweizerischen Behörden die Bewilligung für den Sitz des Sekretariates der ROMANI UNION in der Schweiz. Wir sehen unser Problem auf zwei Ebenen: Erstens müssen den Fahrenden, die noch den Mut haben, ihrer angestammten nomadischen Lebensweise anzuhängen, Möglichkeiten gegeben werden, wie früher frei im Land umherzuziehen und und ihren Handwerken nachzugehen. Noch mehr als alle Vorschriften haben die Wirtschaftsspielregeln der technisierten Welt geschadet: Die Schirmflicker, die in unserem Land eine wichtige Berufsgruppe gewesen sind, bekommen praktisch keine Ersatzmaterialien von den Fabriken. Damit ist es für den Konsumenten einfacher, ihre kaputten Schirme wegzuwerfen und neue zu kaufen, statt die alten flicken zu lassen. Auch sollten z.B. Lagerplätze geschaffen werden, die nicht an Autobahnen oder in den Abgasen von Fabriken und Kehrichtverbrennungsanlagen liegen. Umser zweites Problem seheinen die unter unmenschlichem Druck sesshaft gewordenen Fahrenden und ihre Nachkommen zu sein, eine Gruppe, die man auf 35'000 Menschen schätzt. Während die 'echten' Fahrenden zwar unter wirtschaftlichem schwerem Druck stehen, aber teilweise noch stolz auf ihre Tradition sind, werden die sogenannten Sesshaften aus ihrer Kultur herausgerissen. Sie schämen sich ihrer Herkunft, erzählen ihren Kindern nichts über ihre Traditionen, ja haben sogar teilweise ihre Namen gewechselt, damit man sie nicht als Abkömmlinge des fahrenden Volkes erkennt. Sie haben sich aber nicht in diese Zivilisation integrieren lassen, wo sie heute unglücklich, zwischen ihren Ahnen und der Gesellschaft der Gadjes, der Sesshaften leben. Diese Gruppe hat einen grossen Prozentsatz von unglücklichen Menschen, von kaputten Ehen, von Alkoholikern, Pillensüchtigen. Diesen Menschen müssen wir auch etwas geben, zumindest das Gefühl, dass ihre Vorfahren mit ihren Handwerken und in ihrer ganzen Kultur wertvolle Menschen waren und keine kriminellen Asozialen. Wir Schweizer Fahrenden freuen uns, dass unser Land endlich versucht, unserer Minderheit zu erlauben, ihren eigenen Weg zu gehen und damit den unzähligen geistigen Opfern der 'Entwicklung' bis 1973 eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Die Hölle der Intoleranz, aus der wir heute erwachen, lässt uns die Probleme der Fahrenden in den Nachbarländern verstehen. Wir hoffen, dass alle Gruppen, Stämme und Sippen der Roma, von denen es nach der offiziellen indischen Schätzung auf der ganzen Welt 13 Millionen gibt, nicht ersticken müssen, sondern nach dem grössten Ausrottungsversuch der Weltgeschichte ihre Zukunft finden. Kommentar: |
Die Radgenossenschaft der Landstrasse wurde offiziell im Frühjahr 1975 gegründet, einige der genannten Aktivistinnen und Aktivisten sowie weitere Engagierte, wie der erste Präsident der Radgenossenschaft, Robert Waser, leisteten aber schon vorher Vorarbeit. Die Radgenossenschaft der Landstrasse gibt seit 1975 fortlaufend die Zeitschrift "Scharotl" heraus, was auf jenisch Wohnwagen heisst. Zur Gründungszeit waren neben der hauptsächlichsten Mitgliedergruppe, den schweizerischen Jenischen, auch einige der wenigen damals in der Schweiz lebenden Roma und Sinti aktiv, so der Rom Dr. Jan Cibula, Bern, Mitbegründer der Internationalen Romani-Union. Sergius Golowin, der vielfältige Berner Künstler, Autor und Vorkämpfer für die Würde und Rechte der Fahrenden, war von der Gründung bis zu seinem Tod in der Radgenossenschaft aktiv. Das vorliegende Mediabulletin, das der Presse verteilt wurde, verfasste der damalige Radgenossenschafts-Sekretär Jürg M. Hàfeli. Seit 1985 ist der Jenische Robert Huber Präsident der Radgenossenschaft der Landstrasse. Erstaunlich bleibt, wie lange es dauerte, bis einige der von den schweizerischen Fahrenden sowie von den vielfach auch sesshaften Opfern des "Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse" und anderer Organisationen, die bei der schweizerischen Jenischen-Verfolgung aktiv waren, schleppend und zögerlich verwirklicht wurden. Viele der seit 1975 erhobenen Forderungen sind auch heute nicht verwirklicht, andere Probleme der Ausgrenzung und des Assimilationsdrucks auf Minderheiten kamen hinzu.Die Föderung der Minderehitskulturen der Jenischen, Sinti und Roma und ihrer entstehenden Institutionen in der Schweiz aus Steuermitteln ist krass unterproportional zum Bevölkerungsanteil dieser Gruppen. Insgesamt ist aber, vor allem auch auf den Druck von Gremien der UNO und anderer internationaler Organisationen hin, die Stellung der Angehörigen von Minderheiten wie der Jenischen, der Sinti und der Roma zumindest rechtlich klar besser als vor 1973. Denn bis 1972 verbot die Schweiz die Einreise von "Zigeunern" per Bundeserlass, und das "Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse" der Pro Juventute verbrachte bis 1973 gezielt Kinder der jenischen Minderheit in die Mehrheitsgruppe, was laut UNO-Genozidkonvention ein Tatbestand des Völkermords ist. Die verbliebenen aus ihren Familien entfernten jenischen Kinder wurden 1973 nicht ihren Eltern zurück gegeben, sondern wurden meist weiterhin von ihren Familien getrennt, nicht mehr unter Vormundschaft der Pro Juventute, sondern behördlicher Instanzen, und dies bis in die späten 1980er Jahre. Der dritte Weltkongress der Romani-Union tagte vom 16. bis zum 20. Mai 1981 in der Stadthalle Göttingen; bei der Organisation behilflich war auch die dort domizilierte Gesellschaft für bedrohte Völker. Wie schon der erste Weltkongress der Roma in London (1971) und der zweite Weltkongress der Roma in Genf (1978) brachte auch der dritte Weltkongress der Roma die Anliegen dieser Minderheit und ihrer verschiedenen Teilgruppen einen wichtigen Schritt voran, vor allem auch in Deutschland, und erhielt ein grosses Medienecho. |
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