Dokument Nr. 14: Auszüge aus dem Buch von Hedi Fritz-Niggli: Vererbung bei Mensch und Tier, Zürich 1948 Aus dem Abschnitt "Zwillingsforschung": S.10: "1929 erregte ein Buch von LANGE, 'Verbrechen als Schicksal', in dem LANGE in zuweilen sehr scharfer Formulierung aussagte und bewies, dass selbst die seelischen Komponenten unseres Seins determiniert seien, dass die Vererbung unser Schicksal ist, dem auszuweichen nicht gut möglich sei. LANGE stützte seine Behauptungen auf Untersuchungen an kriminellen Zwillingen." S. 11: "Von den 17 zweieiigen Zwillingen waren nur in zwei Fällen beide Partner kriminell. (...) Eineiige Zwillinge mit denselben Erbanlagen hingegen entwickelten sich in der gleichen Richtung, mochten sie auch noch so weit voneinander entfernt gewesen sein. So mussten Georg und Ferdinand, die Hunderte von Kilometern voneinander trennten, zur selben Zeit am Blinddarm operiert werden, und beide besassen einen unbändigen Trieb in die Ferne, der sie veranlasste, von Ausgangspunkten, die wiederum über 200 km voneinander entfernt waren, zur gleichen Zeit von ihrer Arbeitsstätte durchzubrennen. Beide verbüssten, wieder zur selben Zeit, an verschiedenen Orten die gleiche schwere Strafe für das gleiche Verbrechen. Eine Milieuschädigung in der Jugend, die sich auf beide hätte hätte gleich schlecht auswirken können, kommt nicht in Frage, da sie aus guten Verhältnissen stammen. Bei einem andern eineiigen Paar, zwei Schwestern, die beide von frühester Kindheit in einer völlig verschiedenen Umgebung aufgezogen worden waren, die eine sogar das Gymnasium durchlief, während die andere nur die kürzeste Volksschulbildung besitzen durfte, zeigte es sich nicht nur, dass die Intelligenz beider Mädchen, ungeachtet der verschiedenen Bildung, genau dieselbe war, beide Schwestern besassen auch die gleichen kriminellen Neigungen." Aus dem Abschnitt "Eugenik": S. 198: "Man berechnet, dass in der Schweiz etwa 10% der Bevölkerung nicht vollwertig sind, d.h. entweder taubstumm, blind, schwachsinnig und anderes mehr, alles Übel, die zum grössten Teil erblich sind. Weitaus die heimtückischste erbliche Krankheit ist der Schwachsinn. Nach genauen Schätzunge von BRUGGER leiden etwa 3 - 4% der schweizerischen Bevölkerung und auch derjenigen von Deutschland an erblichem Schwachsinn leichteren bis schwersten Grades, 1% an Schizophrenie und 0,3% an erblicher Epilepsie. Dazu kommen noch viele Psychopathen mit ererbter abnormer seelischer Veranlagung (z.B. manisch-depressives Irresein), ferner Trinker und Verbrecher. Erblich schwere körperliche Krankheiten, wie Augenleiden, Taubstummheit usw. machen einen ebenfalls hohen Prozentsatz aus. (...) Erschreckend sind die Zahlen von MAIER, der zeigte, dass 1883 die Zahl der vom Militärdienst wegen geistigen Defekten Befreiten 1,4% betrug, 1911 aber 2,8%, so dass die Anzahl der Schwachsinnigen in kürzester Zeit um das Doppelte angestiegen ist. (...) Der Grund hiezu ist sehr einfach: Die Fruchtbarkeit der Schwachsinnigen ist grösser als diejenige der Normalen." S.199: "Der Vormarsch der Schwachsinnigen ist deshalb besonders beängstigend, weil sie selber oft unfähig sind, sich selber zu erhalten und, was für die Allgmeeinheit noch schlimmer ist, sie neigen vielfach zur Kriminalität. 'Die Psychopathen sind immer da', sagt KRETSCHMER, 'aber in den kühlen Zeiten begutachten wir sie, und in den heissen beherrschen sie uns.' BRUGGER, der dieses Problem besser als jeder andere kannte, befürwortete die Sterilisation der schweren schwachsinnigen Fälle sehr (...).'Die Tatsache, dass etwa 45% der Kinder eines Schwachsinnigen und 90% der Kinder zweier Schwachsinniger mit /S.200/ mit Sicherheit wiederum schwachsinnig sind, rechtfertigt gewiss energisches Vorgehen', sagt BRUGGER. Die Sterilisation, die übrigens im Kanton Waadt eingeführt worden ist, unterbindet nur die Ausführwege der Geschlechtsorgane, verändert die hormonoale Funktion der Eierstöcke und Hoden nicht und stellt wenigstens für den Mann keinen grossen operativen Eingriff dar. Durch eine dauernde Asylierung könnte man ebenfalls die Schwachsinnigen isolieren, doch wäre die Freiheitsberaubung für beide Teile nicht befriedigend." | |
Kommentar: Hedi Fritz-Niggli (* 22. Oktober 1921; † 31. Mai 2005) absolvierte als eine der ersten Frauen eine glänzende Karriere in der vorher den Männern vorbehaltenen universitären Wissenschaft. Ihre Karriere bekam kurz nach der Publikation des zitierten Buches Schwung. 1950 begann Hedi Fritz-Niggli im Auftrag des Zürcher Radiologen Prof. H.R. Schinz mit dem Aufbau des ersten strahlenbiologischen Laboratoriums am Radiologischen Zentralinstitut des Kantonsspitals Zürich. 1952 habilitierte sie sich an der Universität Zürich und wurde 1958 zur Titularprofessorin ernannt. 1963 wurde das strahlenbiologische Labor in ein eigenständiges Institut für Strahlenbiologie umgewandelt und Hedi Fritz-Niggli zur Institutsvorsteherin und Extraordinaria der Medizinischen Fakultät gewählt. 1964 gründete sie die 'Schweizerische Gesellschaft für Strahlenbiologie' und amtierte als deren erste Präsidentin. Von 1969 bis 1978 war sie als erste Frau Mitglied im Schweizerischen Wissenschaftsrat. 1970 zur Ordinaria befördert, leitete sie das Institut bis zu ihrer Emeritierung im Jahre 1989. Wie viele Psychiater und Mediziner der Schweiz befürwortete auch sie selbst noch nach 1945, als die (ähnlichen) Begründungen sowie das Ausmass und die Grausamkeit der "Eugenik" und "Euthanasie" im Nazi-Reich bekannter geworden waren, weiterhin die schweizerische Praxis "eugenisch" begründeter Sterilisationen von ärztlich als "erblich nicht vollwertig" Befundenen. Das zitierte Buch verliert über die Folgen der "eugenischen" und "rassenhygienischen" Lehren in Nazideutschland kein Wort, verweist jedoch, ohne auf deren einschlägige Verstrickungen hinzuweisen, auf Wissenschafter wie Othmar Freiherr von Verschuer, den Herausgeber der Nazi-Zeitschrift "Der Erbarzt" und Doktorvater von Josef Mengele. Eigenartig ist ferner, dass Fritz-Niggli nur auf die Zwangssterilisations-Praxis im Kanton Waadt hinweist. Dies obwohl sie über den von ihr zitierten Zürcher Psychiatrieprofessor Hans Wolfgang Maier und über ihren Mentor Hans-Rudolf Schinz, der selber schon seit den frühen 1920er Jahren in Zürich Röntgensterilisationen und Röntgenkastrationen durchführte und den sie auch in diesem Buch als Förderer erwähnt, ohne Zweifel darüber in Kenntnis war, dass in anderen Kantonen der Schweiz, wo die Zwangssterilisation nicht gesetzlich geregelt war, und speziell im Kanton Zürich, diese "eugenischen" Eingriffe ganz im Sinn Carl Bruggers noch weit energischer betrieben wurden, mit Opferzahlen, die allein im Kanton Zürich in die Tausende gehen. Dazu sowie zu den in Fritz-Nigglis Buch lobend erwähnten Schweizer "Eugenikern" wie Carl Brugger, Hans Wolfgang Maier, Hans-Rudolf Schinz und vielen anderen schweizerischen "Eugenikern" vgl. - Thomas Huonker: Diagnose "moralisch defekt" . Kastration, Sterilisation und Rassenhygiene im Dienst der Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie 1890-1970. 286 S., gebunden, illustriert, Zürich 2003 - Marietta Meier / Brigitta Bernet / Roswitha Dubach / Urs Germann: "Zwang zur Ordnung", Psychiatrie im Kanton Zürich, 1870–1970, illustriert, Zürich 2007. - Link zu einem Buch über eine in der Schweiz, im Kanton St. Gallen, noch 1972 zur Sterilisation Gedrängte. |
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