Thomas Huonker

Zur Sozial- und Kulturgeschichte von Oerlikon und Umgebung

„Das Mittagessen besteht aus guter Suppe, Fleisch, Kartoffeln sowie Brot mit Butter“

(Dieser Text erschien in gekürzter Form ohne die detaillierten Quellenangaben im Buch: Oerlikon – Industriestadt, Verkehrsknotenpunkt, Unterhaltungsmetropole, Wohnquartier, Zürich 2009, S.160-175)

Oerlikons Siedlungsgeschichte lässt sich bis zur Römerzeit zurückverfolgen. Im Gebiet der Zürichholzstrasse fand man Bronzeteile aus einem römischen Haushalt, so einen bronzenen Schrankgriff in Form zweier Delfine.1 Das alemannische Oerlikon wird erstmals 946 urkund-lich erwähnt als „orlinchova“, was wohl hiess: Hof des Orlinc.2


Leibeigene, Vögte, Kapellen, Söldner und eine Mineralquelle

Laut einem Verzeichnis der Einkünfte der Grafen von Kyburg aus dem Jahr 1279 erbrachte das Amt Schwamendingen, zu dem Oerlikon in der Folge gehörte, jährlich folgende Feudal-abgaben: 55 und zwei Viertel Mütt Korn, 3 und ein Viertel Malter Hafer.3 Um 1300 wurden von 11 Kleinbauern, die je eine „Schupisse“ in Oerlikon als Lehen der Herren von Kyburg bewirtschafteten, jährlich folgender Zins verlangt: Drei Mütt Korn und drei Mütt Hafer sowie je ein Herbst- und ein Fasnachtshuhn pro Betrieb.4

1378 pachtete Johannes Meyer vom Kloster St. Blasien im Schwarzwald einen Hof in Oerli-kon als Lehen. Er musste den Mönchen jeden Herbst auf den Zinstag am Namenstag des heiligen Martin von Tours folgende Feudalabgaben abliefern: 5 Mütt Korn, ein Malter Hafer, ein Fuder besten Heus, ein Fuder Stroh sowie 4 Herbsthühner. Auf Ostern waren dann noch 100 Eier fällig.5

Den Herren von Kyburg oblag auch die Gerichtsbarkeit über Oerlikon, bis deren Oberherr-schaft im 15. Jahrhundert an die Statt Zürich überging.

Kirchlich gehörte Oerlikon im Mittelalter zum Bereich des Grossmünsters, das in Oerlikon die St.Gallus-Kapelle und in Schwamendingen die St.Niklaus-Kapelle errichtete und als Filialkirchen betrieb; die kirchlichen Feudalabgaben gingen, mit Ausnahme des Besitzes des Klosters St. Blasien im Schwarzwald, ans Grossmünsterstift. Im Lauf der Reformation wurde die Oerliker St.Gallus-Kapelle aufgehoben und seither als inzwischen abgerissenes Wohnhaus genutzt.

Im Alten Zürichkrieg, den die Urschweiz gegen Zürich führte, weil die Stadt ein Bündnis mit den Herren von Habsburg eingegangen war, wurde die Siedlung Oerlikon im Sommer 1444 von den Innerschweizern besetzt und geplündert; die Häuser wurden angezündet. Der Wiederaufbau war schwer, lange blieb ein Teil der Oerliker Höfe unbewirtschaftet.6

Bis 1500 war es den Leibeigenen, welche die Lehen des Klosters St. Blasien bebauten, verbo-ten, andere Menschen als solche aus dem Besitz dieses Klosters zu heiraten, damit auch ihre Kinder Eigentum der Mönche blieben.7

Armut und Abenteuerlust trieb immer wieder auch Oerliker als Söldner in fremde Kriegs-dienste. Die Oerliker Heini Meyer, Michael Studer und Felix Binzmüller (aus dem Ortsteil Binzmühle) erlebten die Niederlage in Marignano 1515. Auch nach der Reformation leisteten Söldner aus Zürich fremde Kriegsdienste. Für 1585 sind die Oerliker Felix Studer, Hans Jog-geli Brunner, Joggeli Schwitzer, Lienhard Studer, Robert Studer, Heini Müller und Hermann Maag als Reisläufer überliefert: Felix und Robert Studer waren Artilleristen.8

In Oerlikon sprudelte eine Heilquelle auf einem Schuppissengut, das dem Kloster Oetenbach gehörte, bis es nach der Reformation in den Besitz des Zürcher Bürgergeschlechts Hafner gelangte. Dort, wo heute die Polizeiwache Oerlikon steht, entwickelte sich ein Badebetrieb. 1684 beschrieb Dr. Salzberger den Chemismus der heute versiegten oder verdeckten Quelle so: „Der Brunn zu Oerlikon führt einen resi-nosischen offenen noch unverschlossenen prim-entischen vitriolischen süssen Schwefel, und etwas steubigen Talks, oder federweissiges vermengt; item ein reines untermengtes Erdsalz, und ist sowohl den kalten feuchten, als hitzigen und trockenen Complexionen dienlich, absonderlich den trockenen, hitzigen, cholerischen, gallsüchtigen Personen, wider langwierige, dreitägliche gallichte Fieber, die Brechsucht von häufiger Gall, das Hirnwüten, das Seitenstechen, Lungenentzündung; item alle scharfe, beissende, in- und um sich fressende, offene gallsüchtige Leibs-Schäden.“ 9


Landbewohner, Pfarrherren, Stadtbürger

Seit der Reformation amteten in Schwamendingen, in der schon im 15. Jahrhundert zur Kirche ausgebauten ehemaligen St. Nikolauskapelle, die 1461 mit einem Glockenturm ausge-stattet worden war, eine Reihe von Pfarrern, die auch für Oerlikon zuständig waren, darunter Rudolf Gwalther (1519-1586), der Schwiegersohn Zwinglis. Der als Waise in der Schule des ehemaligen Klosters Kappel 10 erzogene Gwalther wurde als Nachfolger Zwinglis und Bullin-gers Oberherr (mit dem Titel Antistes) über die Zürcher Kirche und versah dieses Amt von 1577 bis 1583. 1546 hatte er ein Buch mit dem Titel „Der Endtchrist“ (Der Antichrist) publiziert, laut Untertitel eine “kurtze (...) bewysung, in fünff Predigen begriffen, dass der Papst (...) eigentlich Endtchrist sye.“

Pfarrer Hans Conrad Strasser führte von 1752 bis 1757 eine Art Statistik über seine Gemeinde mit sehr ins Persönliche gehenden Vermerken wie etwa über die als Schweinehirtin arbeiten-de Margareta Studer, Tochter eines Taglöhners: „Hat sich zu unterschiedlichen Malen wüst vergangen gegen das 7. Gebot.“ Er vermerkte auch die Folgen: Drei uneheliche Kinder von drei Vätern. Auch im 18. Jahrhundert gab es Reisläufer aus Oerlikon. Pfarrer Strasser notierte zu Ulrich Schellenberger: „Ist in französischen Diensten gewesen. Soll nicht viel Besonderes sein. Sündigte sonderlich wider das 7. Gebot.“ 11

Während laut der Statistik Strassers im Schwamendinger Kehlhof eine Magd und in der Zie-gelhütte, ebenfalls in Schwamendingen, 5 Gesellen angestellt waren, gab es in in keinem Haushalt oder Betrieb in Oerlikon Angestellte. Vielmehr arbeiteten jene Oerliker, die keinen Landbesitz hatten, in der Fremde, sei es in fremden Armeen oder in Manufakturen, hauptsäch-lich als Textilarbeiter, oder aber in herrschaftlichen Haushalten der Stadt als Knechte und Mägde.12

Im Jahr 1757 besassen 78 Prozent der Oerliker Haushalte Ackerland, zwischen einer Viertel Jucharte und 54 Jucharten; eine Jucharte entsprach rund 3000 Quadratmetern. 5,8 Prozent der Eigentümer verfügten über 36% der Ackerfläche. 10,5 % der Haushalte verfügten über einen Gemüsegarten, 12,5% waren ohne jeden Landbesitz. Einige unter ihnen lebten als Taglöhner in sehr prekären Einkommensverhältnissen. Immerhin konnten die Eigentumslosen ihr Vieh auf die Allmend zur Weide treiben und im Gemeindewald Holz holen; die Oerliker Allmende umfasste im 18. Jahrhundert 70 Jucharten Weide und 40 Jucharten Wald.13 Die Bevölkerungs-zahl von Oerlikon stieg von rund 40 im Jahr 1468 auf 183 im Jahr 1799..14 Wegen Teuerung, schlechten Wetters oder schlechter Konjunktur in der Textilbranche geriet die damalige Un-terschicht sofort in existentielle Nöte, Hunger war alltäglich. 1795 führt eine Statistik 276 der damals 557 Einwohner Schwamendingens und Oerlikons als „Bedürftige“ auf; das Almosen-amt teilte ihnen Lebensmittel zu.15

1770 wurde der Bläsihof an Johann Jakob Pestalozzi verkauft; dieser liess 1771 erstmals Kar-toffeln anbauen, eine Frucht, welche billigere Kalorien lieferte als die bisher angebauten Ge-wächse.16


Der Freiheitsbaum, die Menschenrechte und nochmals Kriegsschäden in Oerlikon

Die Not der Landbewohner kontrastierte mit der Hablichkeit der Stadtbürger, welche von den Abgaben der Landbewohner lebten und selber keine Steuern bezahlten. Im Februar und März 1798 beteiligten sich deshalb auch die Oerliker am Sturz der Gnädigen Herren von Zürich und schmückten einen Freiheitsbaum, dessen Kosten die Gemeinde Oerlikon mit achteinhalb Gulden verbuchte.17

Die Helvetik proklamierte auch in Zürichs Norden vorübergehend die allgemeinen Men-schenrechte. Doch die helvetische Republik war von Frankreich abhängig, aus dem Napoleon einen diktatorischen Militärstaat machte. Schwamendingen und Oerlikon wurden zum Aufmarschgebiet französischer Truppen mit schweren Kosten für deren Einquartierung und Unterhalt und schliesslich, wie schon im Alten Zürichkrieg, zum Kriegsschauplatz. Am 4. Juni 1799 lieferten sich die Truppen von General Masséna, Frankreich, und General Hotze, Österreich, eine Schlacht. Oerlikon kam unter beidseitigen Artilleriebeschuss. Vier Bauernhäuser, darunter der Bläsihof, und drei Scheunen brannten ab.18 Die zweite Runde dieses Krieges fand am 25. und 26. September 1799 statt. Wieder blieb Masséna siegreich; er eroberte in der Nähe der Ziegelhütte ob Schwamendingen sogar die Kriegskasse seines diesmaligen Gegners, des russischen Generals Korsakow.19

Oerlikon und Schwamendingen verarmten durch den Krieg völlig und konnten und wollten die von der Stadt auch nach 1798 eingeforderten Grundzinsen nicht bezahlen.20 In der Folge wurde 1804 erstmals in der Stadt Zürich gleich wie in den Landgemeinde eine allgemeine Steuer eingezogen; sie wurde an die vom Krieg besonders hart betroffenen Landgemeinden verteilt, darunter Oerlikon.21

Die mit dem Umsturz von 1798 eingeforderte allgemeine Rechtsgleichheit erlebte in der Restaurationszeit von 1815 bis 1830 einen Rückschlag, wurde aber in Zürich von den Libera-len vor allem nach dem Ustertag am 22. November 1830 erfolgreich vorangetrieben. 1839 kam mit dem Züriputsch gegen die babsichtigte Berufung des liberalen Theologen David Friedrich Strauss (1808-1874) an die 1833 gegründete Universität Zürich erneut ein Rück-schritt.

Doch wiederum gestärkt durch eine grosse Volksversammlung am Schwamendinger Tag von 1841 22 setzten sich nach dem Sonderbundskrieg mit der Gründung des liberalen Bundesstaats 1848 schliesslich nicht nur in Zürich, sondern schweizweit die Liberalen durch.


Industrialisierung und erste Arbeiterorganisationen

Die von den Liberalen umgesetzte Gleichheit gab vorerst jedoch nur den christlichen Män-nern das gleiche Wahlrecht. Gleiche Rechte hiess für die Liberalen keineswegs gleiches Ein-kommen, gleiches Vermögen oder gleichen Landbesitzanteil, wie es, ebenfalls im Gefolge der französischen Revolution und ebenfalls unter Berufung auf Gleichheit und Brüderlichkeit, die ersten Sozialisten 23 ab 1830 zunehmend lautstark forderten.

Die ökonomischen Ungleichheiten waren nun nicht mehr legitimiert durch feudale Traditi-onen eines sich als gottgewollte Obrigkeit inszenierenden städtischen Patriziats. Zudem waren sie nicht kleiner, sondern eher grösser geworden. Einige wenige konnten in einer kurzen Lebensspanne Fabrik um Fabrik eröffnen und sich luxuriöse Villen erbauen lassen, während die Mehrheit nicht nur im alten Elend verkam, sondern dazu noch einer intensivierten Aus-beutung der Arbeitskraft unterzogen wurde. In den entstehenden Fabriken galten Arbeits-zeiten vom frühen Morgen bis in den späten Abend. Als Unterkunft dienten Verschläge, später einfache Kosthäuser neben der Fabrik. Frauen und Kinder mussten ebenfalls in der Fabrik arbeiten. Ganze Familien atmeten nur am Sonntag etwas frische Luft, wenn sie dann nicht todmüde den unter der Woche versäumten Schlaf nachholten.

Selbständige Handwerker und die ehemaligen Heimarbeiter der Textilinstrie, etwa die Hand-weber, konnten mit der industriellen Konkurrenz nicht mithalten und sanken ebenso ins Fa-brikproletariat ab wie die in einer intensivierten Landwirtschaft zusehends entbehrlichen Knechte, Mägde und Taglöhner. Auch viele Kleinbauern, die an steilen und schattigen Lagen auf keinen grünen Zweig kamen, konnten ihren Betrieb nur halten, wenn sie in die Fabrik gingen, während Frau und Kinder auf dem Hof arbeiteten.

Im Kanton Zürich gab es 1827 rund 5000 in Spinnereien Beschäftigte. Davon waren 1430 Männer, 1150 Frauen und 2400 Kinder unter 16 Jahren. Die täglichen Arbeitszeiten, inklusive Samstag, dauerten 12 bis 14, teilweise 16 Stunden. Vom Elend dieser Menschen profitierte beispielsweise Heinrich Kunz, genannt der „Spinnerkönig“, der mit Fabriken in Zürich und Schaffhausen begonnen hatte. „Ende der 1830er Jahre besass Kunz mit einem Anteil von 9% aller schweizerischen Spindeln das grösste Spinnereiunternehmen des Landes. Zwischen 1835 und 1845 kaufte er Spinnereien in Adliswil, Linthal, Rorbas und Kemptthal hinzu. Nach diesen Erwerbungen hatte er rund 150'000 Spindeln in Betrieb, beschäftigte 2'000 Arbeitskräfte und erzielte einen Umsatz von 3,5 Millionen Franken. Kunz galt als der grösste Spinnereiunternehmer seiner Zeit in Europa.“ 24

Bevor sich die Arbeiter in Gewerkschaften und Parteien organisierten und in jahrzehntelangen Kämpfen gegen die Unternehmer schliesslich bessere Regelungen erreichten, entlud sich die Wut der Verarmten in Versuchen, die Maschinen zu zerstören. Ihnen gaben sie die Schuld an ihrer Verelendung. So kam es am 22. November 1832, zwei Jahre nach dem triumphalen Ustertag der Liberalen, der ihren politischen Machtantritt signalisierte, zum Fabrikbrand in Uster. Der Wortführer und Haupttäter, der 51jährige Hans Felix Egli, wurde zu 24 Jahren Zwangsarbeit verurteilt.25

Wilhelm Weitling (1808-1871), einer der frühen Sozialisten deutscher Sprache, uneheliches Kind einer Arbeiterin und selber Arbeiter, verbreitete in der Schweiz seine Lehren, bis er in Zürich als staatsgefährdender Ausländer ins Gefängnis gesteckt wurde. Aber seine Gedanken waren nicht auszurotten und wurden, wenn auch in gemilderter Form, teilweise von bekann-ten Zürchern übernommen, etwa vom späteren Regierungsrat Johann Jakob Treichler (1822-1860) oder von Arnold Bürkli (1833-1894), dem Erbauer der öffentlichen Zürcher Seeprome-naden. Treichler politisierte im linken Flügel der Demokraten, Bürkli in der freisinnigen Par-tei, die heute nicht mehr als Verfechterin durchgehend öffentlicher Seeufer auftritt.

Gewerkschaften entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zuerst einzeln in den verschiedenen Berufszweigen und organisierten sich 1880 zentral als Schweizerischer Ge-werkschaftsbund. Als Arbeiterpartei fungierte zuerst der nach dem Rütli benannte Grütli-verein, dann die 1888 gegründete Sozialdemokratische Partei, von der sich 1921 die Kommu-nistische Partei abspaltete. Diese wurde 1940 vom Bundesrat verboten und 1944 als Partei der Arbeit neu gegründet.26


Die Anfänge der Arbeiterbewegung in Oerlikon

Oerlikon hatte sich 1872 von Schwamendingen abgelöst. Die Vorlage zur entsprechenden Abstimmung verfasste der damals als Staatsschreiber angestellte Dichter Gottfried Keller. Oerlikon war bis zur Eingemeindung in die Stadt Zürich (1934), also nur während 62 Jahren, eine eigenständige politische Gemeinde. In den Jahrzehnten nach dem Bau des Bahnhofs Oerlikon als Knotenpunkt der 1855 erbauten Bahnstrecke Oerlikon-Winterthur sowie der 1856 errichteten Strecken Oerlikon-Zürich (mit dem Waidbergtunnel) und Oerlikon-Bülach wurde Oerlikon ein rasch wachsender Industriestandort. Grosse und kleinere Fabriken wie die 1863 (vorerst unter anderem Namen) gegründete Maschinenfabrik Oerlikon (MFO), die Akkumulatorenfabrik (gegründet 1895), die Werkzeugmaschinenfabrik Bührle (gegründet 1906), die vor allem auch Waffen produzierte, die Kondomfabrik Lamprecht oder die Kugellagerfabrik SRO trugen mit ihren Produkten den Namen Oerlikon in die Welt hinaus. Im Endausbau umfasste das Areal der MFO mehr als 260'000 Quadratmeter.

1870 gab es in Oerlikon 80 Gebäude und 731 Einwohner, 1894 waren es 205 Gebäude mit 2550 Bewohnern, 1910 waren es 419 Gebäude mit 5'807 Menschen.27 1941 gab es bereits 18'809 Oerliker und Oerlikerinnen, was fast schon dem heutigen Stand von rund 21'000 entspricht.

Die grossen Fabriken und deren Arbeiterschaft prägten den Ort. Die zahlreichen Wohnbauten der 1916 gegründeten Allgemeinen Baugenossenschaft Zürich ABZ sowie anderer Baugenos-senschaften, das Volkshaus Oerlikon sowie die Wahlresultate zeugten davon. Der industrielle Aufschwung belebte aber auch das Gewerbe. Oerlikon wurde, mit seinen Kleider- und Schuhläden sowie Filialen der Warenhäuser EPA und Jelmoli, zum Konsumparadies des Glatttals, bis ab den 1970er Jahren in Wallisellen und Dietlikon neue, autogängigere Ein-kaufszentren diese Rolle übernahmen.

Die ABZ wurde 1916 mit einem Gründungskapital von 375 Franken gegründet, hatte aber bald über 2000 Mitglieder, die alle den Monatsbeitrag von 20 Rappen beisteuerten, so dass die Genossenschaft ab 1921 die ersten Wohnbauten erstellen konnte. Von 1921 bis 1936 baute die ABZ 1557 günstige Wohnungen in 29 Siedlungen, wovon ein ansehnlicher Anteil in Oerlikon steht. Seit der Gründung Vorstandsmitglied der ABZ war die Kommunistin Dora Staudinger (1886–1964), nach der in Zürich-Affoltern eine Strasse benannt worden ist; sie war mit dem religiös-sozialistischen Theologen Leonhard Ragaz (1868-1945) befreundet, dessen Bewegung auch in Oerlikon viele Anhänger hatte, darunter Pfarrer Lukas Stückelberger (1859-1971), von 1908 bis 1912 in Schwamendingen-Oerlikon, vorher in Aussersihl und nachher in Winterthur tätig.28 Die 1924 errungene linke Mehrheit im „Roten Zürich“ 29 der Zwischenkriegszeit förderte die Genossenschaftsbauten mit günstigen staat-lichen Krediten und Landverkäufen gerade auch in Zürichs Nordteil ennet dem Milchbuck.

Den Arbeiterverein Oerlikon gründeten Oerliker Arbeiter 1877 auf Initiative bestehender Organisationen der Arbeiterbewegung wie des Grütlivereins und der Metallarbeitergewerk-schaft. Kein Geringerer als der langjährige Anführer des Grütlivereins, der später auch zur prägenden Figur der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz werden sollte, Hermann Greulich (1842-1925), sprach an der Versammlung vom 21. Januar 1877 in Oerlikon. Sie beschloss die Gründung eines Arbeitervereins, diese erfolgte am 25. Februar 1877.30 Dass auch ein Mitglied der von 1878 bis 1890 im Kaiserreich als staatsgefährdend verbotenen deutschen Sozialdemokraten dabei war, wurde zum Vorwand scharfer Angriffe auf die Neugründung von rechter Seite. Es sei ein „Halunkenverein“, der Name „Arbeiterverein“ töne kommunistisch, und Sozialdemokraten werde man aus Oerlikon hinausprügeln.31

1880 wurde auch eine Oerliker Sektion des Grütlivereins gegründet. Der Arbeiterverein trat 1902 in die 1888 gegründete Sozialdemokratische Partei ein. Der Arbeiterverein betrieb auch eine Einkaufs- und Verkaufsgenossenschaft, die sich seit 1902 Konsumgenossenschaft nann-te.

Früh existierte in Oerlikon auch ein Arbeiter-Turnverein. Die lokalen Sektionen des SATUS (Schweizerischer Arbieter-Turn-und Sportverein, gegründet 1922) waren aus dem 1874 in Winterthur gegründeten Grütli-Turnverein hervorgegangen; bis heute sind die SATUS-Sektionen im Sportwesen wichtig. Im Schiesssport halten sich bis heute die Grütli-Schützen Zürich-Nord. Es gab auch einen Arbeiter-Radfahr-Verein Oerlikon von I908 bis 2002, ferner Sektionen des Arbeiter-Sängerbunds und der Jugendorganisation der Arbeiterbewegung, der Freien Jugend. Später komplettierte noch eine proletarische Blasmusik das Spektrum. Sie wurde am 13. April 1929 unter dem Namen Arbeiter-Musik Oerlikon und Umgebung im inzwischen abgerissenen Restaurant Heimat gegründet. Vor allem während der Wirtschafts-krise kämpften die Arbeitermusikanten mit Finanzproblemen. So steht im Protokoll der Gene-ralversammlung 1936: „Antrag eines Aktiven für eine neue Klarinette – weil er seine eigene gegen ein Velo eintauschen musste – wird abgelehnt, da im Moment die Vereinskassa leer ist!“

Der Arbeiterbund, ab 1909 Arbeiterunion Oerlikon-Seebach-Schwamendingen genannt, war die Dachorganisation der verschiedenen Arbeitervereine. Er hatte 1892 auch die erste Mai-feier in Oerlikon organisiert. Die Feier zum Ersten Mai war international aus der Forderung nach dem 8-Stunden-Arbeitstag entstanden. Das schweizerische Fabrikgesetz von 1877 legte noch 11 Stunden als Normalarbeitszeit der Fabrikarbeiter fest, was immerhin ein Fortschritt war gegenüber der vorhergehenden Ausbeutung der Arbeiter, darunter auch Kinder, während bis zu 16 Stunden pro Tag. Noch 1905 arbeiteten die Arbeiter des Elektrizitätswerks in Oerli-kon 11 Stunden täglich.32

Der Arbeiterverein Seebach war 1899 gegründet worden, der Arbeiterverein Schwamendin-gen 1906, in Affoltern entstand 1907 direkt eine Sektion der SPS.

Die Arbeiterunion verfügte auch über eine grosse Leihbibliothek, die Unionsbibliothek.

In diesem Umfeld erhielt Robert Grimm (1881-1958), ein wichtiger Anführer der schweizeri-schen Arbeiterbewegung, seine politische Prägung.

Bernard Degen schreibt dazu: „Robert Grimm wurde am 16. April 1881 in Wald, einem der typischen Fabrikdörfer im Zürcher Oberland, als jüngstes von vier Kindern geboren. Vater Albert und Mutter Louise arbeiteten als Schlosser und Weberin in der gleichen Fabrik. Ange-sichts des damals in der Textilindustrie üblichen 11-Stunden-Tages sahen sie die Kinder nur mittags und abends. Obwohl beide berufstätig waren, reichte das karge Einkommen nur zu einem äußerst bescheidenen Leben in einem Kosthaus des Betriebes. Nach Entlassung aus der Schulpflicht sollte auch Robert in die Fabrik eintreten. Er wehrte sich jedoch dagegen und fand mit Hilfe seiner Schwester Albertina in einer Buchdruckerei eine Lehrstelle. Mit 14 Jahren verließ er deshalb das Elternhaus und zog zu seinem Lehrmeister nach Oerlikon, einem Vorort von Zürich. Dort kam er mit sozialistischem Gedankengut, vor allem mit Werken utopischer Sozialisten, in Berührung. Das Geld für Bücher und Broschüren verdiente er am Sonntag als Kellner.“ 33

Robert Grimm wurde später Redaktor der Berner „Tagwacht“. Er war Mitorganisator des Zimmerwalder Treffens von 1915 mit Lenin, Trotzki, Ledebour, Radek und anderen, mit dem Ziel der Beendigung des Weltkriegs durch die Weltrevolution. Schon 1911 war Grimm in den Nationalrat gewählt worden. 1918 gehörte er zu den Hauptorganisatoren des Landesstreiks im Oltener Aktionskomitee. Dafür musste er ein halbes Jahr ins Gefängnis, wo er sein Buch „Die Geschichte der Schweiz in ihren Klassenkämpfen“ schrieb.34 Schliesslich wurde er 1946 Na-tionalratspräsident und Direktor der Bern-Lötschberg-Simplon-Bahn.


Bittere Armut

Um 1877, als die ersten Arbeiterorganisationen in Oerlikon entstanden, waren die Verhält-nisse für Arbeiterfamilien prekär, gekennzeichnet von krasser Armut und dem Fehlen jeg-licher sozialer Sicherung. Es gab nur private Kranken- und Unfallversicherungen – eine solche hatten die Arbeiter der MFO schon 1867 gegründet – , und es gab weder Kinder-zulagen noch eine Alters- und Hinterbliebenenvorsorge. Starb ein Elternteil, drohte die Auflösung der Familie unter „Versorgung“ der Kinder in Heimen oder als Verdingkinder.

In der von Hermann Greulich seit 1869 herausgegebenen Zürcher Zeitung „Tagwacht“, der Vorläuferin des sozialdemokratischen „Volksrecht“, war am 10. November 1877 zu lesen, dass schon eine Arbeiterfamilie mit zwei Kindern grösste Mühe hatte, mit dem damaligen durchschnittlichen Wochenverdienst von 24 Franken auszukommen, geschweige denn Fami-lien mit mehr Kindern. 7 Franken und 70 Rappen gingen für die Miete weg, an Nahrungs-mitteln reichte es täglich für einen Liter Milch und ein Quantum Kartoffeln, aber sie konnten sich kein Brot und schon gar kein Fleisch leisten. Für alle anderen Ausgaben wie Kleidung, Hygiene, Zeitung und Steuern verblieb pro Woche ein einziger Franken!

1910 hatte sich noch nicht viel zum Besseren gewendet. Der britische Ökonom Arthur Clinton Boggess schilderte die Arbeitsverhältnisse dieser Zeit in Europa und kam dabei auch auf die Schweiz zu sprechen: „Hier herrrscht ein solcher Arbeitskräftemangel, dass Italiener, Deu-tsche und Österreicher importiert werden.“ Dies, so Boggess, trotz der schweizerischen Stand-ortnachteile wie Rohstoffmangel, teilweise schwierige Transportwege sowie das ge-werkschaftlich durchgesetzte Nachtarbeitsverbot. Der Brite lobte die Schweizer Arbeiter als „geduldig und fleissig“ und bemerkt: „Wie tief ihr Lohn auch sein mag, sie haben alle ein wenig Geld auf der Sparkasse. Auf dem Land scheint die gewöhnliche Diät der Arbeiter aus drei Mal täglich Kaffee, Brot und Kartoffeln zu bestehen“, immerhin „sonntags mit Fleisch und Wein“.35 Wenn in einem Betrieb der Verdienst es erlaube, mit 4 Tagelöhnen 25 Kilo Mehl zu bezahlen, so liege dies über dem gesamtschweizerischen Durchschnitt.36

Ueber dem Durchschnitt lagen nach dem Befund des englischen Forschers auch die Löhne und Sozialleistungen der Maschinenfabrik Oerlikon. Dennoch sei die Hälfte der 2000 MFO-Arbeiter nur kurzzeitig beschäftigt, weils sie bei der erstbesten Gelegenheit eines besser bezahlten Jobs kündigten.

Die Löhne in Oerlikon lagen 1910 laut Boggess zwischen 77 Rappen und einem Franken 44 Rappen pro Tag, letzteres allerdings nur für die am besten Qualifizierten.37 Die MFO bot zudem den Arbeitern ein verbilligtes Frühstück und ein Mittagessen in der Fabrikkantine an. „Das Mittagessen kostet 10 Rappen und besteht aus guter Suppe, Schweine- oder Rindfleisch, Kohl, Kartoffeln sowie Brot mit Butter“, Suppe dürfe nachgeschöpft werden. Zum Frühstück gabs in der MFO Milch, Kaffee, Butter und Brot.38 Boggess nennt den Preis des Frühstücks nicht, vermerkt aber, die Hälfte der Kosten trage die Firma. Hingegen wurden den Arbeitern der MFO pro Dusche mit Seife und Frottiertuch 2 Rappen vom Lohn abgezogen.39


Arbeiterschicksale

Die sozialen Auseinandersetzung verschärften sich in Zürich mit dem Generalstreik von 1912 und landesweit mit dem Generalstreik von 1918, die beide mittels Militäraufgeboten abge-blockt wurden. Die wichtigsten Forderungen des Landesstreiks hatten gelautet: der Der Acht-Stunden-Arbeitstag, das Proporzwahlrecht im Nationalrat, das Stimm- und Wahlrecht für Frauen, eine Alters- und Hinterbliebenenversicherung, die Erhöhung der Vermögenssteuern. Die Verwirklichung dieser Forderungen wurden nach der militärischen Niederschlagung des Streiks jahrzehntelang verzögert; das Frauenstimmrecht wurde erst 1971 beschlossen.

Die wichtigsten Anführer des Generalstreiks 1918 wurden mit Gefängnis bestraft, wie Robert Grimm, viele andere wurden entlassen. So verlor nach dem Generalstreik der als Verdingkind in Bern aufgewachsene Strassenbahnarbeiter Ernst Lüthi seinen Arbeitsplatz im Tramdepot Oerlikon. Er musste sich als Störgärtner durchschlagen. Schliesslich fand der einstige Rebell als Privatchauffeur und Privatgärtner eines Industriellen und Anwalts am Zürichberg eine Lebensstellung.40

1930 wurde der Zürcher Kommunist Jakob Fausch als Pöstler entlassen und bekam für die nächsten Jahre, wenn er nicht arbeitslos war oder Militärdienst leistete, einzig Arbeit in KP-nahen Firmen, bis er 1940 nach einer Umschulung bei der MFO als Metallarbeiter einsteigen konnte.41

Andere wegen ihrer oppositionellen Haltung in der Schweiz Ausgegrenzte fanden Arbeit in der Sowjetunion. Viele dieser Emigranten unterlagen aber auch dort politischer Verfolgung. Als Ausländer liefen sie erhöhte Gefahr, wegen angeblicher Spionage, Sympathien für Trotz-ki, wegen regimekritischer Äusserungen, oft auch wegen blosser Bekanntschaft mit Anderen, denen solches vorgeworfen wurde, erschossen oder in Institutionen der Zwangsarbeit abtrans-portiert zu werden, wo die Sterblichkeit hoch war. So erging es Jakob Fauschs 1912 gebo-rener Tochter Elsa, die zusammen mit ihrem Mann in die Sowjetunion ausgewandert war. Sie wurde einen Tag nach dem Einmarsch Hitlers in die Sowjetunion zu fünf Jahren Lager in Kasachstan verurteilt. Dort konnte sie dank ihrer medizinischen Ausbildung wenigstens Laborarbeiten verrichten anstelle harter körperlicher Arbeit bei knapper Ernährung. Die Überlebenden kehrten desillustioniert zurück, Elsa Rutgers-Fausch im Jahr 1957.42 Ihr Mann, der ETH-Ingenieur Wim Rutgers, war schon vor der Verurteilung seiner Frau als Trotzkist verdächtigt worden und blieb verschollen.43

Der Oerliker Kommunist Otto Stäuble (1900-1984) hatte bereits 1924 die MFO verlassen, um in der von Lenins Schweizer Freund Fritz Platten gegründeten landwirtschaftlichen Genossen-schaft Nowa Lawa bei Moskau als Maschinist und später in anderen sowjetischen Betrieben zu arbeiten. Obwohl er 1927 tatsächlich für Trotzki und gegen Stalin argumentierte, überlebte er Stalins Terror, da er ein ausgezeichneter Facharbeiter war. Auch Stäuble reiste wieder in die Schweiz zurück, als er nach dem Machtantritt Chruschtschows die Sowjetunion verlassen konnte.44

Es gab auch Spanienkämpfer mit Bezügen zu Oerlikon. So ging Wilhelm Hirzel (1910-1985), auch er ein ehemaliger MFO-Arbeiter, zur Verteidigung der gewählten Regierung gegen den Putschgeneral Franco im November 1936 als Sanitäter an die Front. 1938 kam er in die Schweiz zurück. Er wurde zu vier Monaten Gefängnis und drei Jahren Aberkennung der poli-tischen Rechte verurteilt.45 Diese Urteile gegen die Spanienkämpfer wurden erst 2009 per Bundesgesetz offiziell aufgehoben. Der 1985 Verstorbene erlebte seine Rehabilitation nicht mehr.

Ruhiger und in einzelnen Fällen weit erfolgreicher verliefen die Karrieren jener Arbeiter oder Arbeitervertreter, die weniger weit links politisierten. Der in Zürich-Affoltern mit zahlreichen Geschwistern in einer mausarmen Familie 46 aufgewachsene populäre Gewerkschafter Otto Schütz (1907-1975), Nationalrat von 1947 bis 1975, der 1947 auch Verwaltungsrat des Hallenstadions wurde, ist ein Beispiel dafür. Der Otto-Schütz-Weg in Neu-Oerlikon erinnert an ihn. Er vertrat jene Linie der Konkordanz mit den bürgerlichen Kräften, die 1937 zum Friedensabkommen (mit Streikverbot) in der Metallindustrie führte und die der SPS den Weg in den Bundesrat ebnete, in den 1944 mit Ernst Nobs (1886-1957) ein anderer ehemaliger Anführer des Landesstreiks eintrat.

Es gab aber auch 1937 noch vereinzelte Streiks in der Metallindustrie. Unfälle in der Muniti-onsproduktion waren die Ursache zu einem zweiwöchigen wilden Streik in der Oerlikoner Waffenfabrik Bührle, der am 16. Oktober 1940 begann. Die Streikenden standen allein, keine Organisation unterstützte sie, denn SP und Gewerkschaften hatten sich mit den Unternehmern 1937 auf den Arbeitsfrieden geeinigt und die Kommunistische Partei war vom Bundesrat verboten worden. Der Streik brachte Teilerfolge für die Belegschaft; die Initianten des Streiks, unter anderen Sepp Bühler, Willy Nöthiger und Emmy Bühler-Nöthiger, wurden ent-lassen.

Hauptabnehmer der Produktion der Waffenfabrik Emil Bührles (1890-1956) war das Deu-tsche Reich, das auch andere Fabriken, etwa die Solothurner Waffenfabrik, in der Schweiz für ihre Rüstung produzieren liess. Unter den Waffenhändlern, welche diese Geschäfte vermittelten, war auch Waldemar Pabst, 1919 Befehlshaber des Militärtrupps, der Rosa Luxemburg ermordete.47

Der jüngste Streik in Oerlikon fand am 4. April 2008 statt, als die Gewerkschaft UNIA das Betonwerk der Toggenburger AG an der Hagenholzstrasse bestreikte, um einen für die Bau-arbeiter günstigeren Gesamtarbeitsvertrag zu erreichen, was auch gelang.


Oerlikon als Trendsetter der Schweizer Populärkultur

Im Unterschied zu Seebach, wo die Linke bald die Mehrheit in den Gemeindebehörden stellen konnte, gelang dies in Oerlikon nie. Denn hier hatten sich auch Fabrikbesitzer, Bauunter-nehmer, höhere Angestellte und viele Ladenbesitzer sowie Inhaber kleinerer Gewerbebetriebe angesiedelt. Obwohl ihr also die Erringung der politischen Mehrheit versagt bliebt, konnte die Arbeiterschaft Oerlikon durch ihr breitgefächertes organisatorisches Geflecht und ihre kultu-rellen Vorlieben stark mitprägen; das blieb auch nach der Eingemeindung Oerlikons in die Stad Zürich im Jahr 1934 der Fall.

Die Offene Velorennbahn Oerlikon wurde 1912 erbaut. Sie ist das älteste Sportstadion der Schweiz, das heute noch betrieben wird (nur die römischen Anlagen von Avenches und Windisch sind noch älter). Gleichzeitig ist sie eine der ersten Spannbetonbauten in der Schweiz.

Ebenfalls 1912, fünf Jahre nach der ersten Einrichtung eines Kinos in Zürich in einem beste-henden Bau, wurde in Oerlikon das erste speziell für den Filmvorführungsbetrieb erbaute Kino von Zürich, das Colosseum in Oerlikon eröffnet, und zwar pünktlich auf den 6. Januar; dieses baugeschichtlich bedeutsame Gebäude dient heute dem Gemüsehandel.

Das Volkshaus Oerlikon wurde vom 1920 eigens gegründeten Volkshausverein, präsidiert vom refomierten Pfarrer und Aktivisten der Abstinentenorganisation Blaues Kreuz, Adolf Maurer, später in Volkshausgenossenschaft umbenannt, wurde 1930 in Parallele zum Volks-haus am Helvetiaplatz im Kreis 4 oder zu den Volkshäusern in Winterthur, Olten und Biel gegenüber dem Oerliker Feuerwehrdepot an der Baumackerstrasse als politisch neutrales, alkoholfreies Kulturzentrum mit Finanzbeihilfe seitens der Gemeinde für die verschiedenen Oerliker Vereine, vor allem auch für die der Arbeiterbewegung, errichtet. Den Betrieb führte der Zürcher Frauenverein. 1979 wurde sein Betrieb aufgegeben. Im ehemaligen Volkshaus Oerlikon fand die Evangelische Schule Baumacker Platz. Pfarrer Adolf Maurer (1883-1976) wechselte kurz vor Eröffnung des Oerliker Volkshauses nach Wiedikon und war von 1916 bis 1968 Redaktor des „Zwinglikalenders“ und von 1921 bis 1960 auch Redaktor des „Zürcher Kirchenboten“. Obwohl er lange das Katechetische Institut der Universität leitete und 1931 das Ehrendoktorat der Theologie zugesprochen erhielt, verweigerte ihm der Regierungsrat wegen seiner Mitgliedschaft in der Vereinigung antimilitaristischer Pfarrer 1933 einen Lehr-auftrag an der Universität.48

Das 1939 erbaute Hallenstadion Zürich-Oerlikon ist, wie das Kino Colosseum und die Offene Rennbahn, nicht vom klassisch-elitären Kunstbetrieb mit Galerien, Tonhalle, Theater und Oper geprägt, sondern gehört zu den Bauformen, welche den populären Formen der Massenkultur dienen. Selbst als die Stadt 1967 in Gestalt des Stadthofs 11 (heute Theater 11) eine Bühne im Zentrum Oerlikons erbaute, in unmittelbarer Nähe des Hallenstadions, diente diese nicht, wie ursprünglich geplant, als Gastspiel-Filiale von Oper und Schauspielhaus in Zürichs Norden, sondern etablierte sich schon vor dem entsprechenden Umbau im Jahr 2005 als Aufführungsstätte für die wiederum eher populären Musicals und ähnliche Events, ein Trend, der sich auch in der jahrelangen Daueraufführung des Musicals „Cats“ in einem ehemaligen Fabrikgebäude an der Binzmühlestrasse während der 1990er Jahre zeigte.

Zur bewegten Geschichte des Hallenstadions hat sein langjähriger Leiter, Oscar Bonomo, 1982 einen Bildband vorgelegt,49 und kürzlich erschien ein weiteres Buch zur Geschichte dieses Baus,50 der für viele Besucher aus der Schweiz der wichtigsten Anlaufpunkt in Oerlikon ist und welcher lange auch als Heimatstadion des Zürcher Eishockeyclubs die Fans anzog.

Es gab und gibt immer wieder auch klassische Ballette und Opernaufführungen im Hallen-stadion sowie auch politische Inanspruchnahmen der Räumlichkeiten, wie etwa das Ernte-dankfest der deutschen Kolonie am 4. Oktober 1942 mit seinen Hakenkreuz-Dekorationen, aber auch, am 30. August 1942, die Landesversammlung der Jungen Kirche. An diesem Anlass wurde aus dem Publikum von 8000 Personen heraus die Flüchtlingspolitik des Red-ners Bundesrat Eduard von Steiger kritisiert, worauf dieser die unselige Metapher „Das Rettungsboot ist voll“ prägte, und zwar als Rechtfertigungsversuch dafür, dass die Schweizer Armee und die Grenzwacht Zehntausende von Flüchtlingen, insbesondere jüdische Zivilflüchtlinge, als Todgeweihte ins Nazireich zurückwiesen.51 1945, als die Abwehr der Flüchtlinge gelockert wurde, diente das Hallenstadion vom 22. April bis zum 25. Mai als Unterkunft für rund 2000 überlebende russische und jugoslawische Kriegsgefangene, die bei Kriegsende aus der Zwangsarbeit im grenznahen süddeutschen Raum hatten fliehen können.

Hauptsächlich dient das Hallenstadion aber dem Sport und der Unterhaltung. Es übernimmt dabei eine Pionierfunktion für ehedem abgelehnte, neu im Zentrum des öffentlichen Interesses stehende Trends. So machte das Gastspiel der Folies bergères 1954 Furore, auch wenn nach der ersten Aufführung die Tänzerinnen nicht mehr oben ohne auftreten durften. In den 1950er und 1960er Jahren gastierten Jazzmusiker wie Louis Armstrong.

Legendär sind die ersten Popkonzerte: Das Konzert der Rolling Stones am 14. April 1967, an welchem die Fans aus 1000 Klappstühlen Kleinholz machten, und das so genannte Monster-konzert mit Jimi Hendrix, Eric Burdon, The Cream und anderen am 30. und 31. Mai 1968. Sie waren das musikalische Vorspiel zur Jugendrevolte von 1968 in Zürich. Oscar Bonomo schrieb 1982 zu den Popkonzerten, die damals schon längst ein ein wichtiges kommerzielles Standbein des Stadionbetriebs geworden waren: „Wie heisst es doch bei Wilhelm Busch: Musik wird oft nicht schön befunden, weil stets sie mit Geräusch verbunden.“ 52

Als einzige Buchhandlung in Zürich Nord bietet die Buchhandlung Nievergelt neben Krimis, Reiseführern und Ratgebern auch klassische und moderne Literatur an, gewissermassen in der Nachfolge der Buchhandlung Hallauer in jenen Gebäuden gegenüber dem Bahnhof, wo jetzt Burger-King und der Coop-Laden florieren. Die Buchhandlung Hallauer war auch verlege-risch tätig und gab in den 1880er Jahren die Hallauer'sche Klassiker-Bibliothek in 32 Bänden im handlichen Taschenformat heraus, mit Werken von Shakespeare, Schiller, Goethe, Heine und anderen.53 Zum Kulturleben Oerlikons gehören auch der Arbeitersohn, Lehrer und Schriftsteller Albin Zollinger (1895-1941)54 sowie der Kabarettist und Autor Franz Hohler.

Oerlikon blieb nach der Eingemeindung 1934 als Teil der Stadt Zürich ein populäres Quartier, in dem die Arbeiterschaft bis in die 1970er Jahre einen grossen Anteil an der Bevölkerung hatte. Allerdings erhebt sich auf der Anhöhe über dem ersten städtischen Freibad Allenmoos, erbaut 1939, einem weiteren wichtigen städtebaulichen Akzent in Oerlikon, ein habliches Villenquartier. In den 1930er Jahren wurde es oft als „Fröntlerhügel“ bezeichnet, nicht zuletzt, weil dort die Unternehmerfamilie Scotoni ansässig war. Diese erwarb 1931 für 1,2 Millionen Reichsmark die Aktienmehrheit der Terra-Film AG. Unter Ralph Scotoni, Mitglied der NSDAP, produzierte die Terra-Film AG von 1931 bis 1935 Filme wie den NS-Propagandafilm „Blutendes Deutschland“, den kolonialistischen Streifen „Reiter in Deutsch-Ostafrika“ oder einen Wilhelm-Tell-Film, in dem die Verlobte Görings die Gattin des Tyrannenmörders spielte. Diese Filme erwiesen sich aber als Verlustgeschäft, die Familie Scotoni verkaufte 1935 ihre Anteile an der Terra-AG.55 Die volkstümliche Bezeichnung für dieses Quartier war insofern unangemessen, als dort auch durchaus demokratisch gesinnte Oerliker ihren Wohnsitz hatten, die den schweizerischen Nazi-Organisationen wie der Nationalen Front kritisch gegenüberstanden.

Die Thematisierung dieser Ära, insbesondere auch der Waffengeschäfte der Firma Bührle, gab immer wieder zu reden, so auch, als Emil Bührle der Stadt Zürich den Erweiterungsbau des Kunsthauses schenkte, der 1954 vollendet wurde.56 Ungeklärt ist, ob der Angriff britischer Bomber auf die Eisenbahnlinie Seebach-Affoltern, wobei Bomben in unmittelbarer Nähe des Geländes der Waffenfabrik detonierten, in der Nacht auf den 18. Mai 1943 gezielt oder ein Irrtum war.57


Büroangestellte statt Industriearbeiter, viele Neubauten und wenig Denkmalschutz

Auf den Krieg folgte zunächst die Nachkriegs-Hochkonjunktur, in deren Verlauf wieder viele ausländische Arbeiter auch nach Oerlikon kamen, neben Italienern neu auch viele aus Spanien und Jugoslawien. Die so genannte Erdölkrise 1974/75 machte viele von ihnen arbeitslos; ein grosser Teil reiste in ihre Herkunftsländer zurück.

Die Auslagerung der Industrieproduktion in Länder und Regionen mit tieferen Löhnen betraf seit Mitte der 1970er Jahre auch Oerlikon stark und führte an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert unter der Aegide der Vorsteherin des Hochbauamts Ursula Koch zur Umgestal-tung der immer weniger betriebsamen riesigen Fabrikareale der MFO (später ABB), der Werkzeugmaschinenfabrik Oerlikon und kleinerer Industriebetriebe zum Quartier Neu-Oerlikon mit seinen grossen Parks.58

Die neuen Bewohner des deindustrialisierten Gebiets, wovon in den letzten Jahren viele aus Deutschland zuzogen, arbeiten überwiegend als Büroangestellte, oft auch als selbständige Kleingewerbler. Viele Oerliker haben ihre Arbeitsplätze an anderen Orten, z. B. im Stadtzent-rum oder im 1953 eröffneten Flughafen Kloten, sind also Pendler, während wieder andere aus dem weiteren Umkreis nach Oerlikon pendeln. 2001 gab es in Oerlikon 15'100 Arbeitsplätze, wovon über 70% im Dienstleistungssektor.

In den 1970er und 1980er Jahren stieg das Durchschnittsalter der Bewohner Oerlikon wegen des Wegzugs vieler junger Leute. Dem entsprach die Errichtung von Alterswohnungen, Al-tersheimen und Pflegeheimen. 1969 enstand unter Führung von Stadträtin Emilie Lieberherr das bunt bemalte Altersheim und Sozialzentrum Dorflinde, im gleichen Zeitraum bauten auch die reformierte und die katholische Kirchgemeinde viel Wohnraum für alte Leute. In dieser Zeit wurde aber auch das Hallenbad Oerlikon eröffnet (1978), das einzige Hallenbad in der Schweiz mit einem Zehn-Meter-Springturm, ebenso die Eishalle mit Eisfeld Oerlikon (1984), neben der bereits bestehenden Oerliker Fussballplätze an der Wallisellerstrasse mit ihrer unter Napoleon gepflanzten Pappelallee.

Den vielen Neubauten sind im Lauf der letzten 50 Jahre so viele einst das Gesicht Oerlikons prägende Altbauten geopfert worden, dass vermehrte Anstrengungen zur Rettung alter Bausubstanz dringlich sind. Regula Heusser wunderte sich in ihrem Porträt des Quartiers „Oerlikon – Stadt am Stadtrand“ in der Neuen Zürcher Zeitung vom 26./27. März 1983: „Bis heute steht in ganz Oerlikon kein einziges Haus unter Denkmalschutz“. Dem ist zwar heute nicht mehr ganz so, doch werden spätere Generationen manche Verluste bedauern.


Oerlikon und die Wissenschaft

Erst im 21. Jahrhundert, mit den Neuzuzügern in Neu-Oerlikon, sank das Durchschnittsalter wieder. Dazu trug bei, dass Oerlikon nun auch Unversitätsstandort wurde, so für das Ethno-logische Institut, das Psychologische Institut und das Institut für Informatik der Universität Zürich. Schon vorher wurde Oerlikon wegen der nahe gelegenen neuen Bauten der ETH auf dem Hönggerberg (in Etappen gebaut seit den 1960er Jahren) sowie der Universität oberhalb des Irchelparks (erste Etappe 1979, zweite Etappe 1983) zum Wohnort zahlreicher Akade-miker, neben den stets schon anwesenden Ingenieuren der grossen Fabriken.

Der berühmteste mit Oerlikon verbundene Gelehrte ist wohl Friedrich Traugott Wahlen (1899-1985). Der Agronom erbaute sich 1929 als Leiter der Landwirtschaftlichen Versuchs-anstalt Oerlikon (1929-1943), deren Gelände heute das Areal der Kantonsschule Oerlikon bildet, das Haus Nr. 1 am auf seine Anregung hin so genannten Ährenweg.59 Es dient heute der reformierten Kirchgemeinde als Pfarrhaus. Die landwirtschaftliche Versuchsanstalt wurde 1969 ins Reckenholz nach Affoltern verlegt. Der aus Bern stammende Agronom hatte im 2. Weltkrieg die „Anbauschlacht“ gemäss dem Plan Wahlen zur Erhöhung der Nahrungsmittel-produktion organisiert 60 und war auch Professor an der ETH; von 1943 bis 1949 sass er als Vertreter Zürichs im Ständerat. 1949-1958 arbeitete er für die UNO, bevor er, als Reprä-sentant des weltoffenen Flügels der damaligen BGB (heute SVP), von 1959 bis 1965 als Bundesrat wirkte. Der Wahlen-Park beim neuen Schulhaus Birch erinnert an ihn. 1959 schrieb Wahlen: „Auf Oerliker Boden baute ich mein Heim, und während der zehnjährigen Auslandabwesenheit ist es mir immer ein Trost gewesen, dort ein Stücklein Schweizer Boden mein eigen zu nennen.“ 61


Kirchen- und Turmbauten in Oerlikon

Der grosse Zustrom von Fabrikarbeitern, nicht zuletzt auch aus der Innerschweiz, dem Aargau und aus Italien, sowie die damit einhergehende Entwicklung als lokales Gewerbe-zentrum machte zunächst den in Oerlikon vordem kaum präsenten, nun aber in immer grös-serer Zahl hier wohnenden Katholiken klar, dass für sie wichtige Infrastrukturen fehlten, vor allem eine Kirche. Neben der bereits 1884 gegründeten ersten katholischen Organisation vor Ort, dem katholischen Männerverein Oerlikon,62 wurde 1890 ein Kirchenbauverein gegrün-det.63

Gleichzeitig wurden die ersten katholischen Gottesdienste im Saal des Hotels Sternen angebo-ten. Der 1893 in einer ersten Etappe noch ohne Turm erstellte Kirchenbau an der Schwa-mendingerstrasse kostete 70'000 Franken.64 Der Turm wurde erst 1907 angebaut,65 der Einbau der ersten Orgel erfolgte 1909.66 Als erster katholische Pfarrer in Oerlikon wirkte von 1893 bis 1898 der Walliser Thomas Seiler. Von der Pfarrei Herz-Jesu in Oerlikon aus wurden auch die katholischen Kirchgemeinden und Kirchen in Regensdorf, Affoltern, Seebach, Schwa-mendingen und Dübendorf aufgebaut.

Um 1900 hielten sich im Gebiet um Oerlikon rund 1000 Einwanderer aus Italien auf, zumeist katholischer Konfession. Es war aber schwierig, sie ins Vereinsgeflecht der katholischen Kirchgemeinde (katholischer Jünglingsverein, katholischer Turnverein für Männer, katholi-scher Turnverein für Frauen, Vinzenzverein, Männerchor und Frauenchor, katholische Arbeit-nehmerorganisationen) aufzunehmen. Die Pfarreichronik vermerkt: „Ein Sorgenkind war die Pastoration der braunen Söhne des Südens. Eine von einem Landsmann gehaltene Mission wurde durchschnittlich nur von 7 Personen besucht.“ 67 Erst die Gründung der missione catto-lica und die Einstellung eines italienischsprachigen Priesters (seit 1959) brachte eine bessere Integration der italienischen Glaubensbrüder.

1944-1946 war die katholische Kirche um 14 Meter auf die heutigen Masse verlängert worden, 1955 wurde das an die Kirche angebaute neue Pfarrhaus eingeweiht.

Mittels Beschwerde bis ans Bundesgericht kämpfte der katholische Klerus von Oerlikon gegen das Gottesdienstverbot, das der Regierungsrat 1921 wegen Pockengefahr erlassen hatte und das auch die Reformierten betraf. Ausgerechnet das Fronleichnamsfest, an welchem die Katholiken, jeweils angeführt vom katholischen Männerturnverein, eine grosse Prozession durch Oerlikon durchführten, wurde davon betroffen.68

Am 1. September 1957 feierten zahlreiche Katholiken zusammen mit sämtlichen schweizeri-schen Bischöfen einen Gottesdienst im Hallenstadion zur Feier des 150. Jahrestags der Auf-hebung des seit der Reformation geltenden Verbots der katholischen Messe in Zürich. 1991 eröffnete der Schweizer Zweig des Opus Dei, heute geleitet von dem 1984 bis 1981 als Prie-ster in der Herz-Jesu-Pfarrei tätigen Dr. Peter Rutz, in Oerlikon das Studentenhaus Allen-moos.

Ab 1893 sahen sich die Reformierten in Oerlikon in der Situation, dass nun zwar die in der Diaspora lebenden Katholiken eine Kirche in Oerlikon hatten, sie aber nicht. Denn Oerlikon gehörte immer noch zur Kirchgemeinde Schwamendingen-Oerlikon, und deren Kirche war das alte Kirchlein am Hirschenplatz in Schwamendingen. Zwar konnten die reformierten Oerliker seit 1891 in der allerdings nur kleinen Kapelle des Friedhofs an der Schwamen-dingerstrasse Gottesdienst halten. Nachdem die Katholiken aber ihre neue Kirche auch noch mit einem Turm und einer Orgel versehen hatten, gingen auch die Reformierten an die Errichtung einer eigenen Kirche, und zwar in dominierender Position auf der Anhöhe über dem Schulhaus Halde. Der neue Kirchenbau, mit reichen Jugendstildekorationen, einer gros-sen Orgel und einem hohen Turm mit vier Glocken ausgestattet, wurde am 5. April 1908 eingeweiht und bot über 1000 Menschen Platz. Er kostete 495'249 Franken und 86 Rappen.69 Eine Begründung für den Kirchenbau war auch der Platzmangel bei den Gottesdiensten in der Friedhofskapelle. Denn dieser habe dazu geführt, „dass sich viele eifrige Christen den Sekten anschlossen, zum Schaden unserer Landeskirche“,70 wie Pfarrer Karl Huber (1869-1951) schrieb.

Erst nach der Abtrennung von der Kirchgemeinde Schwamendingen im Jahr 1947 erbaute die reformierte Kirchgemeinde neben dem Volkshaus das Kirchgemeindehaus von 1954 an der Baumackerstrasse mit einem grossen Saal samt Theaterbühne.

Nachdem seit 1908 sowohl die Reformierten wie die Katholiken in Oerlikon je eine grosse Kirche mit Glockenturm hatten, fehlte dies den ebenfalls präsenten Christkatholiken noch. Sie erhielten 1942 ein Kirchlein im Tessiner Stil an der Dörflistrasse, das zu einem Grossteil von Emil Bührle finanziert wurde. Der Industrielle war aus der reformierten Kirche übergetreten, weil insbesondere der religiös-sozial ausgerichtete Pfarrer Willi Kobe (1899-1995), der in Oerlikon von 1932 bis 1964 amtierte, immer wieder gegen seine Waffenfabrik gepredigt hatte und eine wichtige Persönlichkeit der schweizerischen Friedensbewegung war.71 Willi Kobe gründete die Gemeindekrankenpflege in Oerlikon (heute Spitex).72

Seitdem errichteten auch die Methodisten, die Adventisten und die Neuapostolischen ihre Kultusräume in Oerlikon. Vor kurzem wurde auch eine Moschee in einer umgebauten Ge-werbehalle eingeweiht (ohne Minarett).

Im Oerliker Park verfügt das Quartier über einen säkulären, 35 Meter hohen Aussichtsturm für alle, der 2001 eingeweiht wurde. Einen schönen Blick über die Dächer Oerlikons gewährt auch die oberste Etage des als hängender Garten konzipierten MFO-Parks, in dem auch ökumenische Freilicht-Gottesdienste abgehalten werden.

Gute Fernsicht bietet schon seit Jahrzehnten die oberste Etage des 32stöckigen, 85 Meter hohen Hotels International beim Bahnhof Oerlikon (erbaut 1972), wo beim Brand des dortigen Panoramarestaurants am 14. Februar 1988 sechs Menschen starben.


1 Armin Bolliger: Oerlikon. Geschichte einer Zürcher Gemeinde. Zürich 1983, S.11

2 Bolliger 1983, S. 12. Es gibt auch die Ableitung „Höfe der Leute des Orilo“, vgl.

http://www.ogs-seebach.ch/p/infoseld.php?src=ogstheme2.php&id=1426 (Stand 28. Dezember 2009), eine Dar-stellung der Frühgeschichte Oerlikons auf der Homepage der Ortsgeschichtlichen Sammlung Seebach.

3 Bolliger 1983, S. 20

4 Bolliger 1983, S. 15

5 Bolliger 1983, S. 14

6 Bolliger 1983, S. 24f.

7 Bolliger 1983. S. 33f.

8 Bolliger 1983. S. 31

9 Bolliger 1983, S. 34

10 Vgl. zur Geschichte Kappels und der Klosterschule Thomas Huonker / Peter Niederhäuser: 800 Jahre Kloster Kappel. Abtei, Armenanstalt, Bildungshaus. Zürich 2008

11 Zitiert nach Bolliger 1983, S. 35 f.

12 Bolliger 1983, S. 42

13 Bolliger 1983, S. 41

14 Bolliger 1983. S. 38

15 Bolliger 1983, S. 41

16 Bolliger 1983, S. 40

17 Bolliger 1983, S. 48

18 Bolliger 1983, S. 50

19 Bolliger 1983, S. 51

20 Bolliger 1983, S. 53

21 Bolliger 1983, S. 53

22 vgl. Hans Max Kriesi: Gottfried Keller als Politiker, Frauenfeld 1916, S. 28

23 vgl. u.a. Michael Vester, Hg.: Die Frühsozialisten 1789–1848. 2 Bde. Hamburg 1970f.

24 Sarah Brian Scherer, Artikel Heinrich Kunz im Historischen Lexikon der Schweiz

25Arbeitsgruppe für Geschichte der Arbeiterbewegung Zürich: Schweizerische Arbeiterbewegung. Dokumente zu Lage, Organisation und Kämpfen der Arbeiter von der Frühindustrialisierung bis zur Gegenwart. Zürich 1975, S. 44 ff.

26 Vgl. Schweizerische Arbeiterbewegung 1975

27 Adolf Wegmann: Die wirtschaftliche Entwicklung der Maschinenfabrik Oerlikon, Zürich 1920, S. 161

28 Zu Stückelberger, der von 1912 bis 1921 Redaktor der religiös-sozialistischen Zeitschrift „Neue Wege“ war, vgl. Willi Spieler / Stefan Howald / Ruedi Brassel-Moser: Für die Freiheit des Wortes. Neue Wege durch ein Jahrhundert im Spiegel der Zeitschrift des religiösen Sozialismus, Zürich 2009, S. 24-25. Lukas Stückelberger gehörte auch zu den Initiatoren des 1915 erstmals erschienen Zürcher Kirchenboten.

29 Vgl. Steffen Lindig: „Der Entscheid fällt an den Urnen“. Sozialdemokratie und Arbeiter im Roten Zürich 1928 bis 1938. Zürich 1979

30 Andreas Gross, Franz Haag, Heidi Ivic-von Rechenberg, Sylvia Janett, Heiri Strickler, Christof Studer: Vorwärts Genossen! Hundert Jahre Arbeiterbewegung in Oerlikon und Umgebung. Festschrift herausgegeben von der Sozialdemokratischen Partei Zürich 11 und 12, Zürich 1977, S. 20

31 Hundert Jahre 1977, S. 21

32 Hundert Jahre 1977, S. 33

33 Bernard Degen: Robert Grimm (1881-1958). Ein pragmatischer Schweizer Marxist. In: Otrfried Dankelmann (Hg.): Lebensbilder europäischer Sozialdemokraten des 20. Jahrhunderts, Wien 1995, S. 187-201, S. 187

34 1920 in Bern erschienen, Neuauflage Zürich 1977

35 Arthur Clinton Boggess: Some European Conditions Affection Migration. In: Popular Science, Nr. 77, Dezember 1910, S. 570-578, S. 570 (dieses und die folgenden Zitate wurden von mir ins Deutsche übersetzt, T.H.)

36 Boggess 1910, S. 576

37 Boggess 1910, S. 576

38 Boggess 1910, S. 576

39 Boggess 1919, S. 577

40 Hundert Jahre 1977, S. 138-151

41 Peter Huber: Stalins Schatten in die Schweiz. Schweizer Kommunisten in Moskau: Verteidiger und Gefangene der Komintern. Zürich 1994, S. 229

42 Huber 1994, S. 230

43 Huber 1994, S. 220-226

44 vgl. Huber 1994, S. 172 f.

45 Peter Huber / Ralph Hug: Die Schweizer Spanienfreiwilligen. Biografisches Handbuch. Zürich 2008, S. 222f.

46 mündliche Mitteilung meiner Grossmutter Anna Frei-Bader

47 Vgl. Klaus Gietinger: Der Konterrevolutionär. Waldemar Pabst – eine deutsche Karriere, Hamburg 2008, insbesondere Kapitel 10: „In der Schweiz (1941-1955)“

48 Peter Aerne: Artikel Adolf Maurer im Historischen Lexikon der Schweiz

49 Oscar Bonomo: Die Geschichte des Hallenstadions Zürich-Oerlikon oder wo ein Wille, da ein Weg. Zürich 1982

50 Heiner Spiess (Hg.): Das Hallenstadion – Arena der Emotionen, Zürich 2005

51 Vgl. Alfred A. Häsler: Das Boot ist voll. Die Schweiz und die Flüchtlinge. Zürich 1967

52 Bonomo 1982, S. 113

53 Laut den Angaben in den ersten Bänden sollte die Reihe ursprünglich nur 30 Bände umfassen. Von den dort genannten fehlen aber Körners Werke (1 Band). Vorhanden sind: Chamisso (1 Band), Goethe (4 Bände), Hauff (2 Bände), Heine (4 Bände), Kleist (1 Band), Lenau (1 Band), Lessing (3 Bände), Schiller (4 Bände), Shake-speare (4 Bände), Uhland (1 Band), Zschokke (4 Bände). Zusätzlich (und ebenfalls einheitlich gebunden) Rückert (3 Bände

54 Vgl. zu Albin Zollinger u.a. Gustav Huonker: „Es ist die Sorge um unser Land, die mich zu reden treibt.“ Albin Zollinger der Publizist. In: Albin Zollinger, Werke, Bd. 6, Zürich 1984, S. 347-385; Isabelle Chopin: Albin Zollinger. Entre politique et poésie (1933-1939). Bern 2000

55 Vgl.Thomas Kramer / Dominik Siegrist: „Terra“ – Ein Schweizer Filmkonzern im Dritten Reich. Zürich 1991

56 Zu Emil Bührle und seiner Waffenfabrik vgl. H. Bänninger: 50 Jahre Werkzeugmaschinenfabrik Oerlikon, Zürich 1957; Ruedi Christen: Die Bührle-Saga. Zürich 1981; Daniel Heller: Zwischen Unternehmertum, Politik und Überleben. Emil G. Bührle und die Werkzeugmaschinenfabrik Oerlikon, Bührle & Co. 1924–1945. Frauen-feld 2002.

57 Vgl. dazu den Artikel von Thomas Bachmann: Vor 60 Jahren fielen Bomben auf Zürich. Irrtümer im strategi-schen Luftkrieg der Allierten. In: Neue Zürcher Zeitung, 4. März 2005. Bachmann vertritt die Meinung, es habe sich bei diesen Bombardements, auch bei jenen im Gebiet des heutigen Irchelparks am 4. März 1945, die auch in Oerlikon die Fensterscheiben erzittern liessen, um Versehen gehandelt. Diese seien auch deswegen möglich gewesem, weil in der Schweiz, wie in Deutschland, die nächtliche Verdunkelung eingeführt worden war, um den allierten Flugzeugen die Orientierung zu erschweren.

58 Vgl. dazu u.a.: Roland W. Scholz / Sandro Bösch / Harald A. Mieg / Jürg Stünzi / Katharina Zwicker: Zent-rum Zürich Nord. Zürich im Aufbruch, Fallstudie Umweltnatur- und Umweltsozialwissenschaften ETH, Zürich 1996; Roderick Hönig / Benedikt Loderer: So baut man eine Stadt: Neu-Oerlikon. Beilage zu Nr. 6-7 / 2006 der Zeitschrift „Hochparterre“, Zürich.

59 Paul Amacher: Aus der Geschichte der reformierten Kirchgemeinde Oerlikon, Zürich 1991, S.78

60 vgl. Peter Maurer: Anbauschlacht. Landwirtschaftspolitik, Plan Wahlen, Anbauwerk 1937-1945. Zürich 1985

61 Aus dem Vorwort von Friedrich Traugott Wahlen zur Erstausgabe von 1959, in der Zweitauflage von 1983 S.7, in: Armin Bolliger: Oerlikon. Geschichte einer Zürcher Gemeinde. Zürich 1983

62 Robert Dinkel: 100 Jahre Herz-Jesu-Pfarrei Zürich Oerlikon 1893 – 1993, Zürich 1993, S.12

63 Dinkel 1993, S. 13

64 Dinkel 1993, S. 15

65 Dinkel 1993, S. 44

66 Dinkel 1993, S. 52

67 Dinkel 1993, S. 93

68 Dinkel 1993, S. 106

69 Karl Huber: Denkschrift zur Erinnerung an die Einweihung der neuen protestantischen Kirche in Oerlikon, Zürich 1912, S.70

70 Huber 1912, S. 8

71 Vgl. Ruedi Brassel / Martin Leuenberger: Willi Kobe – Pazifist, Sozialist und Pfarrer. Eine Lebensgeschichte für die Friedensbewegung. Mit einem Vorwort von Alfred A. Häsler. Luzern 1994

72 Amacher 1991, S.35