Artikel im Sonntags-Blick, Zürich, vom 5. September 2010 über Administrativhaft und Kindswegnahme:
Madeleine Ischer über das dunkelste Kapitel unseres Landes
Von Walter Hauser (Text) und Michael Würtenberg (Foto) | Aktualisiert um 00:50 | 05.09.2010
Leben ohne Jugend. Madeleine Ischer fand ihr Glück erst mit 50 Jahren. (Michael Wuertenberg)
Madeleine im Alter von 14 Jahren. Mit 17 nahmen ihr die Behörden den Sohn weg – sie hat ihn nie wiedergesehen.
Wäre es nach dem Willen der Vormundschaftsbehörden des Kantons Bern gegangen, hätte ich nie auf die Welt kommen dürfen», sagt Madeleine Ischer verbittert. In ihrer kleinen Zweizimmerwohnung erzählt die IV-Rentnerin von der Vergangenheit, immer wieder bricht sie in Tränen aus, raucht eine Zigarette nach der anderen. «Sie haben mir meine Jugend gestohlen», sagt die heute 61-Jährige. Einfach weil ihre Mutter ledig und Italienerin war. «Unser Guantánamo», nennt Madeleine Ischer diese beschämende Zeit der Schweizer Geschichte, in der ihr alles genommen wurde: das Jungsein, die Unbeschwertheit, der kleine Sohn.
«Ich war ein Bastard von der
ersten Minute meines Lebens an», sagt Madeleine Ischer. Die
ersten beiden Jahre ihres Lebens wuchs sie noch als glückliches
Baby bei ihrer Mutter in Bern auf, allerdings unter Vormundschaft.
Eine Ledige hatte kein Elternrecht, so war das Gesetz in der Schweiz.
Als das Kind zwei war, kam das Amt, holte es ab und steckte es in ein
Heim – die erste von 16 Anstalten, in denen man Madeleine bis
zum Alter von 20 Jahren verwahrte.
Warum? «Wir waren doch
normale Leute», sagt Madeleine Ischer. Aber es gibt eine
Aktennotiz der Behörden über ihre Mutter. Von «liederlichem
Lebenswandel» ist die Rede. Schliesslich war sie ein
«Sau-Tschingg», wie es damals hiess. «So einer»
traute man alles zu.
Ihr Papa sei so liebevoll gewesen, erinnert
sich Madeleine Ischer. Er habe sie sogar im Heim besucht. «Er
hat gesagt, du bist meine Sissi, er fand mich so schön wie die
österreichische Kaiserin.»
Doch die kleine Tochter bleibt unter
der Fuchtel der Behörden. Heim- und Anstaltsleiter machen ihr
das Leben zur Hölle. «Die wollten uns brechen. Sie haben
uns geschlagen und gezüchtigt, uns gegen unseren Willen
Medikamente gegeben, uns sexuell belästigt und missbraucht. Wer
sich wehrte, wurde erst recht schikaniert.» Als ihr geliebter
Papa stirbt, darf sie zur Beerdigung – in Handschellen, wie
eine Verbrecherin.
«Ich musste mein Baby
weggeben»
Endlich, sie ist knapp 17, darf Madeleine
vorübergehend zurück zu ihrer Mutter und beginnt eine Lehre
als Verkäuferin. Sie verliebt sich in einen 20-jährigen
Soldaten, wird schwanger. Für die Behörden ist der Fall
klar: Abtreibung. Danach Sterilisierung. Madeleine wehrt sich wie von
Sinnen und bringt 1966 in einem Mädchenheim im Kanton Appenzell
einen Buben zur Welt.
Das Glück mit dem herzigen Kleinen ist
kurz. «Die Fürsorgerin aus Bern hat ihn in der Tragtasche
mitgenommen und im Auto wegchauffiert. Ich schrie, aber es nützte
nichts.» Die vom Amt behaupten, sie habe ihn zur Adoption
freigegeben. Sie hat ihren Sohn nie wiedergesehen.
Die grausame
Tragik ihres Schicksals offenbarte sich Madeleine Ischer erst vor
einem Jahr. Da erfuhr sie von dem Liebesbrief, den ihr der Vater
ihres Buben in die Anstalt geschrieben hatte. Er wollte Madeleine
heiraten! Doch ihre Peiniger hielten den Brief zurück. «So
eine» durfte nicht heiraten. 1964, lange vor ihrer
Schwangerschaft, hatte das Vormundschaftsamt einen Bericht über
die damals 15-Jährige verfasst: «Triebhafte, leicht
verstimmbare Psychopathin im Pubertätsalter mit schwerster
Störung der Verhaltensweise im Sinne einer Oppositionshaltung.»
Nach der Geburt versorgten die Behörden Madeleine im
Frauengefängnis Hindelbank, wo sie drei Jahre lang unter
Mörderinnen lebte und ohne Lohn putzen und kochen musste. «Es
war Zwangsarbeit. Kost und Logis mussten wir selber bezahlen.»
Ihr
halbes Leben ging vorbei, bis sie fähig war, ein bisschen
normales Glück zu erleben. «Ich hatte kein Vertrauen in
die Männer.» Erst vor zehn Jahren begegnete sie ihrer
ersten echten Liebe. Aus einer früheren Beziehung hat sie noch
einen Sohn, er schenkte ihr zwei Enkel. Bei seinem 41. Geburtstag
diese Woche «hatten wir ein wunderbares Fest zusammen»,
erzählt sie. Irgendwann, als es richtig schön war, habe sie
plötzlich an ihren anderen Sohn denken müssen. Den, den man
ihr weggenommen hat. Er wäre heute 44. «Wie gern würde
ich ihn einmal sehen.»
Das sagen Blick-Leser:
Gaby Widmer, Weinfelden - 13:42 | 05.09.2010
» Einfach nur traurig, solche Schicksale zu lesen. Ich hoffe, das gibt es heute nicht mehr!
Milan D. Capitani, Dänikon - 13:33 | 05.09.2010
» Diese Geschichte kommt mir irgendwie bekannt vor, nur dass ich sie von der Seite des "Kindes" her kenne. Meine Mutter wurde ausgewiesen ich wurde zu Adoption freigegeben, aber nie adoptiert und dann in Heime gesteckt wo ich aufwuchs. Habe heute noch Probleme damit, bin dadurch Staatenlose, aber die Schweiz interessiert sich nicht dafür, und Hilfe bekomme ich von keiner Seite her. Ich bin seit 45 Jahren in der Schweiz gefangen und kann nichts dagegen machen.
Uriel Berlinger, Flüelen - 13:25 | 05.09.2010
» Ich gratuliere Madeleine Ischer für ihren Mut, ihre fürchterliche Geschichte via Medien offen zu legen. Die Schweiz lebte in jener Zeit im finstersten Mittelalter, zerstörerisch statt aufbauend, bekämpfend statt fördernd. Es ist nicht lange her, als die Behörden dumm und zerstörerisch handelten. Der Schweizer Staat muss an Madeleine Ischer eine millionenschwere Wiedergutmachung zahlen. Der Staat machte sich verantwortlich für diese Verbrechen an Madeleine Ischer.
Viktor Claus, Zürich - 12:51 | 05.09.2010
» Diese Frau braucht unsere Hilfe, nicht bloss finanziell. Ich schäme mich, ein Schweizer zu sein! Rechtsanwälte bewegt euch und verhelft dieser Frau, einen Teil ihrer verlorenen Rechte zurück zu bekommen.